Nachtfahrt

In der Titanic-Rubrik Humorkritik hat sich das Sammelpseudonym Hans Mentz über bellende Hunde in der Literatur ausgelassen und schreibt:
„Als typischer Anfängerfehler, den minderqualifizierte Autorinnen und Autoren durchaus bis ins Spätwerk mitzuschleppen nicht vermeiden können, gilt die Verwendung des auf eine Stimmung quasi existenzieller Verlorenheit abzielenden Satzes »Irgendwo bellte ein Hund«. Ja, dieser Satz ist geradezu zur Chiffre für handwerkliche (und freilich auch gedankliche) Autoren-Unfähigkeit geworden.“

Man kann leichthin so urteilen, wenn man mit einem Glas Wein an der Tastatur sitzt, quasi am Besserwissertisch, der aber eigentlich die Katzenbank ist, auf der ein Ahnungsloser hockt, der vom nächtlichen Durchqueren einer Einöde nur gelesen, sich folglich noch nie im Leben „existenziell verloren“ gefühlt hat.

Gerade ward mir der letzte Kuss gegeben, so einer, von dem man sich sehnlichst wünscht, er werde niemals enden. Ich reiße mich los. Mitternacht ist schon vorüber und wer kann, ist um diese Zeit zu Hause. Und ich habe noch 12 Kilometer Radfahren vorm Bauch. Nicht die Entfernung, der Weg durch die Nacht lässt mich schaudern. Natürlich hat das verliebte Geplänkel meine Phantasie überhitzt. Denn es ist doch ein Weg im zivilisierten Rheinland. Was soll es da schon Gruseliges geben?

Gibt es etwas Trostloseres als Laternen, die eine leere Dorfstraße bescheinen? Aber nein, auch diese Laternen spenden Trost. Könnte man ihn sonst vermissen, wenn man den letzten Lichtkegel verlassen hat und auf die einsame Landstraße hinaus muss? Aber auch die einsame Chaussee inmitten der Felder wünscht man sich zurück, wenn sich plötzlich schwarz und bedrohlich der Wald herandrängt und die Straße verschlingt. Und rolle ich hinein in diesen Kohlensack, dann mit einem Rest Zuversicht, denn ich weiß nach wenigen hundert Metern liegt mitten im Wald das große Kloster. Ich spähe hoffnungsfroh hinüber. Die Lichtung tut sich auf. Da ist der Torbau in der Klostermauer, und im Gewölbe schaukelt ein flackernd Lämpchen, aber das mächtige Kloster liegt im fahlen Grau. Es wirkt völlig verlassen, als wären alle Mönche über Nacht vom Glauben abgefallen, hurtig entsprungen und hätten sich eilends in alle Winde zerstreut.

Ich fasse nicht fünf Gramm neuen Mut, bevor ich wieder in den finsteren Wald eintauche. Hier ist nur noch der Lichtkegel meiner Fahrradleuchte. Er macht mir Sorgen. Wenn da Augen sind im Wald, dann ziehe ich sie auf mich. Welche Augen? Ich fasse nach vorn zum Dynamo und biege ihn zur Seite, bis er einrastet. So ist’s besser. Aber jetzt kann ich den Verlauf der Straße nur noch ahnen. Es ist eine alte Römerstraße, ein Abzweig von der nordsüdlichen Fernstraße zum Kastell am Rhein. Ich bin zwar noch jung, aber weiß schon, was Horaz über Wege gesagt hat: „Auf dem Mittelweg gehst du am besten.“ Manche verstehen das metaphorisch, doch ich weiß, dass militärische Erfahrung dahinter steckt. Von der Mitte des Wegs hast du beide Seiten im Blick, denn die gepflasterten Römerstraßen sind in der Mitte höher als am Rand. Wenn unklar ist, von welcher Seite ein Angriff erfolgt, ist der Mittelweg die maximale Entfernung von potentieller Gefahr. Am Straßenrand zu gehen, empfiehlt sich nicht, denn man ist dem Gebüsch zu nahe und sieht die Gefahren zu spät.

Ach, verflucht, im Finstern bin ich vom Mittelweg abgekommen und beinah in den Graben gefahren. Von weither höre ich ein Auto kommen. Jetzt ist’s besser, Licht zu haben. Sonst nietet es mich im Vorbeirauschen um, und hast du nicht gesehen, finde ich mich genau in diesem Graben wieder. Licht an, Licht wieder aus. O Mann, endet der Wald denn nie? Auf der Chaussee draußen werde ich wieder mehr sehen können, aber sonst wartet da wenig Erfreuliches, nämlich eine Einöde, ein trocken gelegtes Moor, mühsam zu durchqueren, weil es da nicht rollt. Die Chausseebäume hat Napoleon wohl pflanzen lassen, damit seine marschierenden Soldaten Schatten hatten. Aber dass an fast jedem Baum schon jemand sich totgefahren hat, den ich kannte, lässt mich schaudern. Und es wird nicht besser, denn die Chaussee geht über in einen stark ansteigenden Hohlweg, und just an seinem Beginn warten die verkommenen Gemäuer der alten Ziegelei.

Wie ich endlich den Waldrand erreicht habe, bellt in der Ferne ein Hund. Linker Hand. Ich ahne wo, denn abseits der Straße liegen mitten im Feld die Gebäude einer Gärtnerei. Dort lebt ein Bösewicht, ein Mann, den die amerikanischen Soldaten schon haben sein eigenes Grab schaufeln lassen für eine Scheinhinrichtung. So sehr hat er sich schuldig gemacht an den polnischen Zwangsarbeiterinnen. Einer, der gemordet hat, so einer hält sich keinen Pinscher, nicht so ein nervend kläffendes Etwas, das man gerne in die Küche eines chinesischen Restaurants scheuchen würde, auch wenn man sonst ein friedlicher Mensch ist. Nein, ein Mann wie dieser Gärtner hält sich garantiert einen großen Hund in einem Zwinger mit rostigen Gitterstäben, wo auch das friedlichste Tier den Hass und das Böse in sich entdeckt. Das zähnefletschende Biest hat sich längst heiser gebellt und heult nun so jämmerlich wie nur der Köter eines abgrundtief bösen Menschen heulen kann.

Ein Gefühl der Verlorenheit schnürt mir die Brust ein. All die Kraft meiner Jugend droht mich zu verlassen. Ich werde immer langsamer. Zum ersten Mal erlebe ich das Gefühl der Zeitdehnung, in dem ich mich mühe und mühe, doch nicht entkommen kann, nicht vorwärts komme. Wie ein Insekt im Netz der Spinne, dessen Bewegungen vor Erschöpfung immer langsamer werden. Diese kämpfende Kreatur hat keine Ahnung von einem Vorher, zappelt im Hier und Jetzt, als wäre ihre ganze Existenz nur ein endloses Zappeln und Sterben. Welche Kräfte lähmen mich? Sind es Gespinste der schauerlichen Geschehnisse in der Gärtnerei oder schwelt etwas im alten Moor, das hier ausdünstet und mir das Atmen erschwert? Dreimal haben die Germanen jene getötet, die sie im Moor versenkt haben. Man findet sie mit einem Loch im Schädel, einem Strick um den Hals und zerschlagenem Brustkorb. Dreimal getötete Leichen aus alter Zeit und wie die Zwangsarbeiterinnen zu Tode kamen, daran will ich lieber nicht denken.

Da endlich tauchen die Ruinen der Ziegelei auf, zur Straße offene Schuppen. Am Kopfende steht noch ein einsames Haus. Hier wohnt seltsames Volk, außerhalb der Zivilisation, folgt eigenen Gesetzen, setzt Kinder in die Welt, die niemals eine Schule besuchen. Wovon die wilden Menschen leben, ist unklar. Manchmal sieh man Männer an alten Autos herumschrauben, die überall auf dem weiträumigen Gelände herumstehen, zum Teil versunken in einem Meer von Brennnesseln. Ich hoffe so sehr dass diese Leute schlafen, nicht als Torwächter auf mich lauern, der ich diese düstere Welt verlassen will. Ich tauche in den Hohlweg ein. Die Furcht treibt mich den Anstieg hinauf, bis die Muskeln übersäuern und mich die Kraft verlässt. Da, zwei, drei Tritte noch und ich biege erleichtert ins Dorf Anstel ein.

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31 Kommentare zu “Nachtfahrt

  1. Eine atemberaubende und ausgesprochen gruselige Fahrt durch die Nacht!… Diese Art von Horror liebe ich – es ängstigt beim Lesen und eiskalte Schauer laufen einem über den Rücken, ohne dass Gewalt oder Horrorszenarien angewandt werden und das Blut eimerweise spritzt. Meisterhaft!

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  2. Haben Sie gewusst, dass der Satz »Irgendwo bellte ein Hund«* in der Literaturgeschichte insgesamt achtzehnmal häufiger vorkommt als die beiden Sätze »Irgendwo schrie eine Katze«* und »Die Vögel verstummten«* zusammen.

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    • Dankeschön, liebe Gerda. Von der Wirkung und von der Rezeption bin ich ganz überrascht, zumal dem Text reale Erfahrungen zu Grunde liegen. Hoffen wir, dass es die vorlesende Großmutter in der realen Erzählsituation bald wieder geben darf und nicht alles per Skype oder Podcast erledigt werden muss.

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  3. Herr Leisetöne regte vor noch gar nicht so langer Zeit an, ihm Quellen mit dem Satz »Irgendwo bellte ein Hund« zukommen zu lassen, um sie zu sammeln.
    Schuhuuuuuh…. (streiche Hund – setzte Eule)
    😉

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