Eines Morgens stand ein Fremder im Glashaus, ein blasser, schwarzhaariger Mann mit dünnen, stark behaarten Armen und eckigen Schultern. „Wingens, mein Name, ich bin der neue Geselle“, sagte er und reichte Hannes eine schmale Hand.
„Ich bin Hannes Overlack, Lehrling im ersten Lehrjahr“, sagte Hannes.
„Ja, ich habe schon von dir gehört“, sagte Wingens. „Herr Eupen hat gut von dir gesprochen.“
„Na ja, ich lerne noch, Herr Wingens“, sagte Hannes errötend. Wingens wandte sich ab, griff nach dem obersten Manuskript vom Stapel auf seinem Arbeitstisch und sagte: „Dann woll’n wir mal.“
Er stand mit dem Rücken zu Hannes am alten Arbeitsplatz von Dyckers, so dass ihn Hannes nicht beobachten konnte. Doch Wingens schien sich rasch zu orientieren, wusste bald, welche Schriften wo in ihrer Gasse lagen. Er sollte einen Passus in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen einer Versicherung ändern, und Hannes zeigte ihm, wo der Stehsatz zu finden war, in einem Regal mit Setzschiffen aus Aluminium für großen Stehsatz. Die Form war zweispaltig in der 6 Punkt Helvetica kompress gesetzt. Dyckers hatte damals einen ganzen Tag an den Geschäftsbedingungen gearbeitet, freilich auch viel herumgetrödelt.
Wingens zog das Schiff hervor, und als hätte er nicht mit seinem Gewicht gerechnet, sackte ihm das Schiff nach vorne, die Geschäftsbedingungen glitten hinunter und stürzten zu Boden. Da sich zwischen den Zeilen keine Regletten befanden, die den Satz hätten stabilisieren können, brach alles auseinander. Hannes erschrak, als die Lettern krachend zu Boden prasselten. Aus der Nebengasse schaute Siegfried Hofmann hoch und rief „O je! Der Neue hat `nen Eierkuchen 1 fabriziert!“ Der Neue stand fassungslos und kreidebleich vor dem wirren Haufen Bleimaterial am Boden.
Der Junior kam hinzu, besah den Schaden, stieß die Luft durch die Nase und schwieg, obwohl die Arbeitsleistung eines ganzen Tages am Boden lag.
„Das tut mir Leid, Herr Eupen“, stammelte Wingens, „ich werde das selbstverständlich aufräumen.“
„Kann der Lehrling machen“, sagte der Junior und wollte sich schon abwenden, als Wingens fortfuhr: „Ich, ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Ich habe noch nie etwas fallen lassen. Das müssen Sie mir glauben, Herr Eupen! Sie müssen!“
Wingens war in höchster Aufruhr. Seine Stimme wurde höher, lauter und begann sich in der Aufregung zu überschlagen: „Sie können jeden fragen, Herr Eupen!“ Der Junior runzelte die Stirn und sagte: „Schon gut.“ Wingens war nicht zu beruhigen, wollte sich offenbar erklären, doch was er noch sagte, war nicht mehr zu verstehen. Die heraus gestoßenen Silben und Wörter glichen mehr und mehr einem heiseren Bellen.
„So beruhigen Sie sich doch, Herr Wingens!“, sagte der Junior. Aber Wingens war nicht aufzuhalten, sondern musste laut und anhaltend bellen. Es klangt so unheimlich und gleichsam jämmerlich, dass es alle in der Setzerei verstörte.
Hannes duckte sich erschrocken weg. Im Bellen war Wingens schrecklich anzusehen. Seine blasse Haut wurde von hektischen rosaroten Flecken überzogen. Das kläffende Gesicht war zur Grimasse verzerrt. Die schwarzen pisseligen Haare klebten ihm auf der blanken Stirn, und plötzlich war die Luft vom sauren Gestank seines Angstschweißes erfüllt.
Wingens verstummte, stützte sich auf seinen Arbeitstisch und schluchzte. Selbst in der angrenzenden Buchbinderei hatte man ihn gehört. Frau Meisel, die Vorarbeiterin, kam herüber und näherte sich vorsichtig. „Geht es wieder?“, fragte sie und legte Wingens beschwichtigend die Hand auf den Oberarm. „Nein, es geht nicht“, stieß er hervor. „Ich hatte so gehofft, es geht, aber es geht nicht.“
„Herr Eupen, was haben Sie mit dem gemacht?“, fragte Frau Meisel vorwurfsvoll.
„Ich habe doch gar nichts gemacht – oder Hannes?“, sagte der Junior verunsichert.
„Nein, Sie sind ganz ruhig geblieben“, sagte Hannes und begann, den Eierkuchen aufzuklauben. Er rätselte, was mit Wingens los war. Offenbar war er gemütskrank und nicht arbeitsfähig. Tatsächlich sollte er nicht wieder im Betrieb auftauchen.
1 Eierkuchen (Druckersprache) – eine zusammengefallene Bleisatzform
“gemütskrank“: welch anmutiger Begriff, ganz aus der Zeit gefallen. Hörte sich freilich wesentlich taktvoller an als das zeitgenössische “psychotisch“.
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Da ich personal erzähle, war ich mir bei „gemütskrank“ nicht sicher, ob meine Erzählfigur Hannes das Wort kennen kann. Sie haben es jetzt quasi geadelt.
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Stimmt, Herr Nömix hat recht, das gut beschreibende Wort passt! Bei mir wäre es ein „Flatternervenkostüm“ gewesen. Hört sich allerdings harmloser an als „gemütskrank“!
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Ein Wort wie „Flatternervenkostüm“ kann ja nur aus deiner Feder fließen, liebe Sonja.
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Armer Herr Wingens… Wenn man in jenen Tagen als Mensch nicht „der Norm“ entsprach, hatte man einen verdammt schweren Stand… Professioneller seelischer Beistand ist ja damals noch ausgesprochen dünn gesät und auch überaus verpönt gewesen.
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Du hast Recht, in Gemütsfragen wurde einem kaum geholfen, wobei ich vermute, dass seine Probleme bekannt waren, was die verhaltene Reaktion des Juniors erklärt.
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Es nimmt ja an, hoffen zu dürfen, dass aus diesen, aua, druckvollen Geschichten ein gar artiges Büchlein wird
Herr Koske
(… sehr wahrscheinlich, dass Mr. Trittenheim schon irgendwo etwas dazu geschrieben und Herr K. das übersehen hat…)
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Hallo, Herr Koske!
Schön mal wieder von Ihnen zu lesen. Ja, das soll ein Roman werden, steckt aber noch in Anfängen. Danke der Nachfrage und freundliche Grüße
Ihr Mr. Trittenheim
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… dieser Herr Gracian beunruhigt mich… ich fürchte, der hat Recht…
Virenfreie Grüße
K., Kommunikationsobermeister
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