Die bequeme Zufahrt zum Überweg ist durch fünf Exemplare der Scheuer-Idiotie verstellt. Ich halte seitlich ein wenig oberhalb, von wo ich die beiden Fahrspuren und die Straßenbahngleise überblicken kann. Als frei ist, rolle ich hinüber. Vom Herrenhausener Schloss donnert ein Lastenfahrrad heran. Dem lasse ich lieber die Vorfahrt. Eine Kollision wäre fatal. Der sonst belebte Vorplatz des Großen Gartens ist verwaist. Auch die Straße zwischen Georgengarten und der Graft des Großen Gartens scheint menschenleer zu sein. Doch da! Auf Höhe des Kassenhäuschens quert plötzlich ein Brautpaar die Straße, als wären sie geradewegs aus dem siebten Himmel gefallen.
Wo, zum Teufel, kommen die her? Die Kasse ist längst geschlossen. Im Weiterfahren schaue ich dem Paar hinterher. Das weiße Brautkleid wirkt im Dämmer fast grau, und er sieht in seinem schwarzen Frack aus wie ein Leichenbitter. Selten habe ich so ein trauriges Bild gesehen. Als wären schon am „schönsten Tag des Lebens“ alle Hoffnungen und Illusionen von ihnen abgefallen und vom Dämmer verschluckt worden. Vielleicht sind sie einbestellt gewesen von einem boshaften Hochzeitsfotografen. Jedenfalls sind ihr die Füße schwer und auch er kriegt sie nicht ordentlich hoch. Was jetzt noch kommen kann, ist Tristesse.
Jene Stunde der Dämmerung an einem stillen Herbstabend, wenn aus den Niederungen der Dunst aufstiegt und die Luft die Töne in Moll überträgt, mag ich nicht. Es ist jedenfalls keine Zeit für Hochzeitsfotografie.
Ich nähere mich der Autobahn. Wie ein zäher Brei aus unerschöpflicher Quelle zieht der Autolärm dahin, völlig gleichmäßig und eintönig, ohne je abzuebben oder anzuschwellen. Da möchte man gar nicht glauben, dass der Klangbrei von verschiedenen Automobilen erzeugt wird, die von einander völlig fremden Fahrern gesteuert werden. Wie viele müssen dicht auf dicht folgen, um gerade den Lärmbrei mit just dieser Konsistenz zu formen? Wer rührt den Brei an? Wer überwacht seine Klangfarbe? Wer ruft den sorgenden Familienvater weg vom Abendtisch und befiehlt ihm, seinen Platz in der Reihe einzunehmen? Jede Sekunde muss doch einer „Du bist gleich dran!“ hören, den Löffel auf den Esstisch fallen lassen oder von sonst wo sich erheben und in sein Auto springen, wo er den Zündschlüssel dreht und das Gaspedal trampelt, um seine gesellschaftliche Pflicht als Autofahrer zu erfüllen und Teil des Breis zu werden.
Glücklich zu Hause. Ich zünde ein Lichtlein an.
ist vielleicht doch irgendwo ein Familienvater nicht vom Esstisch aufgestanden – und so hat sich der Lärmbrei ein ganz klein wenig in seiner Konsistenz verändert? Ich will die Hoffnung nicht aufgeben.
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Doch. Es soll ja Familienväter ohne Auto geben.
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Zum Thema Autobahn muss ich an die „Einstürzende Neubauten“ (wollte fast schreiben „Merzbauten“) denken, als sie unter einer Autobahnbrücke in einem Loch ihre experimentelle Musik schuffen. Wahrhaftig, Klangbrei, eine Art akustische Merz-Assemblage!
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So wertfrei erlebe ich Autolärm nicht mehr. Je älter ich werde, desto lärmempfindlicher.
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Diese Fragen gingen mir auch schon mal durch den Kopf, Die Konstanz des Zufalls…
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Conklusio?
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ich habe mal ein Gedicht über eine Autofahrt geschrieben über die konstante nicht Konstanz der anderen Verkehrsteilnehmer die immer da sind aber eben immer andere und jeder, jede in einer bestimmten Mission…
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Ein wirklich seltsames Bild mit dem Brautpaar. Man kannte hoffen, dass sie mit einem Stimmungstiefpunkt starteten.
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Nach dem Motto: Von nun an gehts bergauf?
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Genau
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