Das Schmuckstück im Schlafzimmer meiner Eltern war eine Frisierkommode mit einem dreiflügeligen Spiegelaufsatz, mittig ein großes und an jeder Seite ein schmales Spiegelelement, das sich einklappen ließ. Ich sah meine Mutter selten vor diesem Spiegel. Sie war keine eitle Frau. Nach dem Tod ihres Mannes, meines Vaters, bestand für sie kaum noch Notwenigkeit, sich zurecht zu machen. Um so öfter sah ich in den Spiegel, und zwar in einen der Seitenflügel. Es war möglich, sie so zu stellen, dass sie sich gegenseitig spiegelten. Das gab den faszinierenden Spiegeleffekt, der immer kleiner werdenden Spiegel bis in eine unwägbare Unendlichkeit. Streckte ich meine Nase in diese phantastische Spiegelwelt, wurde auch ich in der immer kleiner werdenden Verdopplung und Verdopplung ein Teil von ihr. Dass es in der scheinbar so fest gefügte Realität einen derartigen Ort gab wie die sich selbst wiederholende Spiegelwelt, machte mich froh. Viel später lernte ich, dass es ein Wort dafür gibt: Iteration. Das Volkslied „Ein Hund lief in die Küche…“ ist quasi die sprachliche Entsprechung zur Spiegelwelt. Schade, dass der Köter immer wieder sein Leben lassen muss:
Ein Hund lief in die Küche
Und stahl dem Koch ein Ei.
Da nahm der Koch den Löffel
Und schlug den Hund entzwei..
Da kamen alle Hunde
Und gruben ihm ein Grab
Und setzten ihm ein’ Grabstein
Worauf geschrieben stand:
Ein Hund lief in die Küche
Und stahl dem Koch ein Ei.
[…]
Bei jeder Wiederholung, werden Hund. Küche, Koch, das Ei, der Löffel und der Grabstein kleiner, theoretisch unendlich oft. Trotzdem bleibt der Vorgang verständlich. Das unterscheidet das Lied vom sich immer wieder spiegelnden Spiegel.
Meine Oma hatte auch so einen Schminktisch. Rechts und links Türen und in der Mitte drei Schubladen. Darin durfte ich herumkramen – und tat das auch. Waren spannende Sachen drin.
Das Lied wurde bei uns übrigens anders gesungen. Nach der Ersten Strophe vertauschten wir die Substantive. Je absurder, desto besser: Ein Ei kam in die Küche und stahl dem Hund ’nen Koch…
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An Schubladen erinnere ich mich auch. Da fanden sich Sachen, die im Altag nie eine Rolle spielten, beispielsweise lederne Handschuhe. Leider versagt hier meine Erinnerung. Köche, Eier, Hunde waren jedenfalls nicht dabei. 😉
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Bei Oma waren aufblasbare Wasserbälle drin. Bestimmt noch mehr, aber an die erinnere mich mich besonders 🙂
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So ein Spiegel stand auch im Schlafzimmer meiner Eltern. Offenbar war das ein must-have der späten fünfziger oder frühen sechziger Jahre. In einer noch zauberhafteren Welt als der unseren würden die Spiegelungen sich verhalten wie der Text in feldlilies Kommentar, sie würden kleine Veränderungen durchlaufen, mal ein Ohr größer, eine Auge braun und eines Blau und schließlich einen alten Mann oder eine junge Frau zeigen. So einen Spiegel würde ich mir auch ins Schlafzimmer stellen, auch wenn bei mir mit Schminken nichts mehr zu retten ist.
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Die Vorstellung hat etwas Phantastisches. Meine Spiegel haben immerzu braune Haare gezeigt, als ich schon längst grau war. Schon das Seitenverkehrte ist ja irgendwie unheimlich.
Spiegel im Schlafzimmer – das ist nicht unverfänglich. 😉
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Ja! Mein Badezimmerspiegel beteiligt sich auch an diesem freundlichen Betrug.
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Dieses Möbelstück war damals weniger zum Schminken gedacht als zum Frisieren. Es hieß auch Frisierkommode.
In den alten Filmen saß dann nach einem besonderen Erlebnis, zum Beispiel einem Kuss von IHM, später die Frau mit der Haarbürste vor dem Spiegel und sinnierte. Manchmal in Zwiesprache mit der Stimme ihres Geiwssens.
Wenn es eine Prinzessin war, hielt selbstverständlich eine Kammerzofe die Bürste in der Hand hielt und je nachdem auch Zwiesprache.
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Frisierkommode, nach dem Wort hatte ich gesucht. Vielen Dank für den Hinweis.
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Vor genau so einem Spiegel habe ich als Kind auch gesessen und in die Unendlichkeit geschaut. Wenn ich nur lange genug geduldig bin, würde ich mir irgendwann aus der Ferne zuwinken, habe ich immer gehofft. Ich war aber nicht geduldig genug. Vielleicht hatte ich auch Angst, dass es tatsächlich passiert…
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Derlei Spiegelzauber war ein Motiv in dem Horrorfilm Candymans Fluch von 1993, den du Cineastin vielleicht kennst. Im Film besagt eine Legende, man müsse in den Spiegel schauen und fünfmal seinen Namen rufen, dann erscheint der Candyman.
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Lieber Jules,
Ja, das waren noch Zeiten. Da konnten Frau oder Herr sich noch gepflegt im Spiegeltryptichon bequem sitzend ondulieren und anhimmeln. Der Altar der
Eitelkeiten, zu Omas Zeiten noch fürnehm dekoriert mit edlen Bürsten und Kämmen sowie diversen Parfumzerstäubern wich schließlich dem schlichten Alibert. Die modernen Zeiten stehen heute beim Schönmachen, mitnichten nur die Damen, nein auch die Herren überprüfen gern vorm ausgeklappten Seitenflügel ob die kahle Stelle am Hinterkopf optimal kaschiert wurde und bei Familie Trump im Weißen Haus hängt bestimmt auch so ein Spiegeltryptichon Marke Alibert in Eierschalengilb, denn bei Donald wackelt nie auch nur ein einziges gilbes Härchen sondern immer gleich die ganze, fest mit seinem Skalp verleimte ganze Matte.
Das Lied kenne ich, habe es als Kind oft gesungen…allerdings kenne ich es mit Mops.
Liebe Grüße
Amélie
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Liebe Amélie,
zur Kontrolle der Frisur waren die Klappspiegel ideal.Inwieweit der Alibert das auch leistete, weiß ich nicht mehr. Im Bad in meiner letzten Aachener Wohnung hing einer, aber ich erinnere mich nur noch vage. Die Variante mit dem Mops kenne ich auch.
Lieben Gruß
Jules
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Dankeschön für die Erinnerung an dieses Möbelstück, lieber Jules.
Das Erste, das mir beim Lesen in den Sinn kam, war dieser, vermutlich auf jeder Frisierkommode stehende, gläserne Parfumflakon mit ein textilumwobenen Ballpumpe als Zerstäuber, der aber niemals mit irgendetwas befüllt war. Zumindest nicht bei uns.
Dieser dreigeteilte Spiegel wurde mir wichtig, als ich an der Schwelle der Erkenntnis, dass man Mädchen nicht nur verkloppen, sondern auch begehren konnte, stand: kamen doch da gerade die Beatles heraus, und da war es wichtig, dass die Beatlesmähne (wir nannten es Matte) nicht nur von vorn gut aussah. Lange her.
Ach ja: noch so ein Lied
Und scheint die Sonne so warm,
dann nehm ich Papier untern Arm.
Und scheint die Sonne so heiß,
dann nehm ich Papier
und dann scheint die Sonne so warm,
dann nehm ich Papier untern Arm….
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Unsere Kindheitserinnerungen weisen einige Parallelen auf, lieber Lo. Das hier ist nicht das erste Beispiel. Danke, dass du an den Partümzerstäuber erinnerst. Wurde da nicht Kölnisch Wasser eingefüllt? Frisurkontrolle war sicher der eigentliche Zweck der Klappspiegel.
Danke für das Endloslied.. Ich kenne es so:
Und scheint die Sonne so warm,
dann nehm ich Papier untern Arm.
Und scheint die Sonne so heiß,
setz ich mich nieder und schei …
… nt die Sonne so warm
etc.
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Im Österreichischen wird diese Art Frisiertoilette, die zur Biedermeierzeit populär wurde, als Psyche (mundartlich “Psich“) bezeichnet.
Über die Etymologie dieser Bezeichnung ist mir nichts bekannt, ein Wikipedia-Eintrag besagt aber:
Möglicherweise wurde das Möbel deswegen so benannt, weil sich durch den vertikal schwenkbaren mittleren Spiegel das Ganzkörperbild der davor stehenden Person betrachten ließ (?)
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Dankeschön für den Hinweis. Die vertikale Schwenkung des mittleren Spiegels gab es bei unserem Modell nicht.
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Ich kenne da auch eine Geschichte, die erzählte immer mein Vater:
Es war einmal ein Mann, der hatte 7 Söhne. Und die Söhne fragten: „Vater, erzählst du uns eine Geschichte?“
Da fing der Vater an:“ Es war einmal ein Mann…
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Schönes Beispiel. Es besticht durch seine einfache Konstruktion. Vielen Dank.
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Noch ein Zirkelkanon aus der Mottenkiste:
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Danke für das Beispiel. Interessant, dass im Verlauf die beiden Sprecher die Rollen tauschen:
A »Wo gehst du hin?«
B »Ins Kino.«
A »Was schaust du dir an?«
B »Quo vadis.«
A »Was heißt das?«
B »Wo gehst du hin.«
A »Ins Kino.«
B »Was schaust du dir an?«
A »Quo vadis.«
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Ja, so ließ es sich von zwei oder beliebig vielen Kindern endlos weiterspielen, indem immer das nächste die Rolle des Vorredners übernahm.
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Erinnert mich an eine ebenso unendliche „Geschichte“, die meine Mutter während des Windelns meinem jüngeren Bruder sehr ausdrucksvoll ständig wiederholte und ihn damit quasi paralysierte:
… ich runter von der Leiter, rum um‘ Baum und ruff auf die Leiter
und leuchte dem Uhu mit der Laterne genau vor die Birne
der Uhu nicht dumm, dreht sich einfach um.
Iiiiiiiiiiiiiich runter von der Leiter, rum um‘ Baum und ruff auf die Leiter
und leuchte dem Uhu mit der Laterne genau vor die Birne
der Uhu nicht dumm, dreht sich einfach um.
Iiiiiiiiiiiiiich runter… etc.
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Dankeschön für das tolle Beispiel einer unendlichen Geschichte.
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