Meine lieben Damen und Herren, heute gibt es im Teestübchen Trithemius keinen launigen Aprilscherz, im Gegenteil, wenn ich König von Deutschland wäre oder ein aufsteigender Despot wie Markus Söder, würde ich alle Aprilscherze mit Corona und oder Klopapier verbieten, ersteres der ohnehin kursierenden Fake-News wegen, letzteres aus Gründen des guten Geschmacks, also des Vergehens wider den. Verdorrie, ich kann schon gar nicht mehr klar formulieren. Aber jetzt: Im digitalen Teestübchen Ihres Vertrauens wird niemand in den April geschickt.
Ich erinnere lediglich an einen Brauch aus Baden-Würtemberg, an ein „In den April schicken“, das der Schweizer Ethnologe Hanns Bächtold-Stäubli im “Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens” beschreibt: „Am ersten April schickt man die Kinder in die Häuser mit einem Zettel, auf dem steht:
- Aprilenbot, Aprilenbot!
Schick den Narren weiter
Gib ihm auch ein Stücklein Brot,
Dass er net vergebens goht.“
In diesem Brauch wird am kindlichen Analphabeten die Macht des Alphabets demonstriert. Wenn sich niemand erbarmt, wird das Kind bis zu seiner Erschöpfung weitergeschickt, ohne zu wissen wie ihm geschieht. Kinder auf diese Weise zu veralbern, ist in unserer Gesellschaft nicht mehr opportun. Ganz anders unser Umgang mit Alten.
Bei einem Seminar zum Thema Handschrift an Bauhausuniversität Weimar machte mich die Studentin Theresa Zingel auf die Theorie der Nichtorte des französischen Ethnologen Marc Auge aufmerksam. Nichtorte sind Orte, die man aufsucht, um sie zu verlassen wie Bahnhöfe und Bushaltestellen. Dabei darf man nicht an die Bahnhöfe der Großstädte mit ihren Einkaufszentren, Fressständen, Dienstleistungs- und Versorgungseinrichtungen denken. Wer schon einmal in der Provinz auf einem windigen Bahnsteig gehockt hat, hinter sich das verrammelte und verrottende Bahnhofsgebäude, der hat das überzeugende Beispiel eines Nichtortes erlebt. Als Student habe ich einmal lange an einer einsam gelegenen Bushaltestelle in der wallonischen Provinz gestanden und gewartet. Die Ödnis dieses Nichtortes war nicht zu übertreffen. Auch der ausgehängte gammelige Fahrplan hat mir nicht geholfen, denn da war niemand, der Auskunft geben konnte, ob er überhaupt noch gilt. Ich erinnere mich nicht, wie ich da weggekommen bin, kann nur zuverlässig sagen, dass ich nicht mehr da stehe.
Damals dachte ich bereits, dass stumme Auskunftgeber wie Hinweisschilder und Anzeigetafeln Ausdruck der sozialen Entfremdung sind. Der französische Philosoph Michel Foucault nennt derartige Orte „Heterotopien“ „Orte außerhalb aller Orte“, die nach seiner Ansicht kommunikative Verwahrlosung anzeigen. Foucault zählt dazu ausdrücklich Altenheime, euphemistisch ‘Seniorenzentren’ genannt. An den Orten außerhalb aller Orte, wo unsere Gesellschaft die Alten zentriert, findet man zunehmend Nichtorte der besonderen Art, sogenannte Trughaltestellen im geschlossenen Garten. Demenzkranke können sich dort der Illusion hingeben, nach Hause aufzubrechen. Haben sie eine Weile vergeblich gewartet, ist der Impuls, nach Hause zu wollen, wieder vergessen und sie kehren freiwillig in den Schutz der Einrichtung zurück oder werden freundlich abgeführt. Natürlich gibt es zum neuen Brauchtum der Scheinhaltestellen bereits einen Eintrag bei Wikipedia, diesem grandiosen Nichtort des Digitalen.
Da findet sich das Beispiel einer Trughaltestelle auf dem Gang. Was zunächst absurd erscheint, entpuppt sich als besonders fürsorgliche Maßnahme der palliativen Therapie, denn so können reiselustige Demente geschützt vor Regen, Sturm und Kälte warten, bis etwa Pflegepersonal ihnen erzählt: „Die U-Bahn kommt heute nicht. Sie wird bestreikt!“ Es fehlt aber die Auflösung des Schwindels, der heitere Ruf: „April! April!“ Seit ich die Trughaltestelle gesehen habe, beschleicht mich der böse Verdacht, dass unsere Gesellschaft eine Fülle bislang unerkannter Nichtorte bereit hält, an denen wir wie die Dementen lebenslang in den April geschickt werden, und keiner kommt, uns zu erlösen.
April, April!: Letzte Haltestelle Demenz, Trughaltestelle in Hannover-Linden, wo niemals ein Bus hinkommt, denn das Gelände ist rundum geschlossen und von außen unzugänglich. Deshalb die ungünstige Perspektive. – Foto: JvdL, (größer: klicken)
Ein sehr interessanter Text. Allerdings bin ich jetzt auch völlig deprimiert. Gleich setze ich mich vor den Rechner, wo ich im digitalen Nichts mit den Schülern Kontakt aufnehme. Vielleicht traut sich einer von ihnen, mich in den April zu schicken. Das würde mich trösten.
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Der Tatbestand ist deprimierend. Ich habe den Godehardistift mal angeschrieben und nach der Rechtfertigung für diesen Betrug gefragt. Dort lag keinerlei Problembewusstsein vor. Ich hätte fragen müssen, ob sie selbst dereinst so behandelt werden wollten.
Das fröhliche in den April schicken dürfte heuer ein bisschen schal ausfallen. Vielleicht können junge Menschen sich eher von allem frei machen. Ich wünsche viel Glück.
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Diese Haltestellen basieren auf dem Prinzip der sog. Validation, einer Kommunikationstechnik die bei Menschen mit Demenz eingesetzt wird; Ich hab zu Validation mal einen Wochenendworkshop dazu besucht: Aufgreifen von Gefühlen statt Konfrontation mit kognitiven Informationen, die bei Demenz immer schlechter Vetarbeitet werden können.
In der Ausbildung enthalten ist sehr viel Reflexion über die Frage der Lüge.
Korrekterweise würde das Pflegepersonal nur sagen „tja, der Bus kommt heute nicht“. Das ist nicht gelogen, die Behauptung der Bestreikung wäre dagegen eine Lüge.
Ich finde diese innovativen Ansätze gut, und der geringere Einsatz von Sedierung, weniger Konflikte auf der Station und eine allgemein entspanntete Atmosphäre geben den Recht, wie ich meine.
Ja, ich würde lieber an der Bushaltestelle sitzen und mich sonnen und darüber die Zeit vergessen, als von irgendwem die ganze Zeit etwas Kompliziertes erklärt zu bekommen das ich nicht verstehe und dann immerzu alles falsch mache und dann dafür geschimpft werde aber gar nicht weiss warum weil alles so kompliziert ist und ich es nicht verstanden habe aber ich mache es falsch dabei tut es mir leid aber ich hab es nicht vetstanden etc…..
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Danke für die Informationen über die Sinnigkeit solcher Haltestellen. Das Konzept macht mir trotzdem ein mulmiges Gefühl. Aus heutiger Sicht wollte ich nicht in die Situation kommen, an einer solchen Haltestelle zu warten, weil ich nach Hause will. Der Verlust dieses Zuhause ist natürlich auch tragisch.
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Mir scheint, mein Büro ist auch ein Nichtort. Ich gebe mich dort der Illusion der Arbeit hin und kann es kaum erwarten wieder zu gehen. 😉 Danke für deine interessanten Ausführungen.
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Das trifft gewiss auf manchen Bürojob zu. Von dir hingegen hätte ich den Eindruck nicht erwartet, denn was ich bisher über deine Arbeit las, fand ich nützlich und ehrenwert.
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Im Büro ist momentan nichts los. Es kommt keiner zur Beratung. Wir verstärken nun unsere Aktivitäten auf der Straße.
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Vielleicht hat diese Validationstheorie doch etwas für sich. Eine Freundin von mir, deren Mutter an Demenz erkrankt war, hat einem Kurs darüber gemacht. SIe hat gesagt: „Warum soll man diesen alten Menschen die Wahrheit zumuten, wenn sie sie derart stresst. Sie haben ihr Leben lang hart gearbeitet und werden niemandem mehr etwas tun. Lassen wir ihnen die Illusion, wenn sie sie beruhigt.“
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Offenbar ist der Wunsch vorhanden, nach Hause zu gehen. Den auf diese Weise ins Leere laufen zu lassen, finde ich inhuman.
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Liebe Jules, es hätte mich auch sehr gewundert wenn du uns heute in den April geschickt hättest. Es hätte nicht zu dir gepasst. Über die nicht Orte habe ich gerne gelesen. Auf dem Weg zu einer Lesung war ich an einer solchen Haltestelle und konnte jetzt gerade noch einmal daran denken. Liebe Grüße
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Ja, liebe MItzi, ich erinnere mich an deinen Bericht von der Lesereise durch die Provinz, wo es viele trostlose Nichtorte gibt. In den Städten sind sie meist gut .kaschiert. Lieben Gruß
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Spannend und berührend. Aber wartet mal ab, der Bus kommt noch!
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Das wäre die Sensation. Die heitere Auflösung: „Der Bus kommt!“
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Die Trughaltestelle wächst und wächst und spannt sich mittlerweile um die ganze Welt…
FROHE OSTERN
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