Es war ein Beichtunfall

Als ich im Text gestern die katholische Ohrenbeichte erwähnte, fiel mir der Beichtunfall meines Urgroßvaters ein, von dem meine Mutter oft erzählt hat. Als junges Mädchen musste sie ihren Großvater jeden Samstagnachmittag zur Kirche führen, denn dieser große schwere Mann war im Alter erblindet. Mein Urgroßvater wollte nämlich jeden Samstag beichten. Mit Recht wird man fragen, welche schweren Sünden denn ein alter blinder Mann unter der Woche auf sich laden konnte, dass eine wöchentliche Beichte nötig wurde.

Das habe ich mich auch gefragt, bis ich die Egils Saga gelesen hatte. Egil war ein isländischer Skalde, also ein Heldendichter. Schon als Knabe erschlug er einen Jungen im Zorn,genauer, er schleuderte ihm einen Stein vor die Brust, setzte sich anschließend hin und schrieb über diesen Vorfall ein Gedicht, was vermutlich seine Form der Beichte war, denn im 9. Jahrhundert waren die Isländer noch Heiden. Nach einem erfüllten Leben mit zahlreichen Heldentaten, auch beachtlichen, wie hier erzählt, und sicher genau so vielen Gedichten, im hohen Alter erblindete Egil. Eines Tages befahl er zwei Dienern, seinen Goldschatz auf zwei Ponys zu laden und auf den Mosfellsgletscher zu führen. Dort sollten die Diener den Schatz vergraben. Anschließend erschlug er die beiden, damit sie das Versteck des Schatzes nicht verraten konnten. Einen Goldschatz hatte mein Urgroßvater nicht, und wenn er Mitmenschen erschlug, dann im Geiste. Vermutlich dachte er sich die abscheulichsten Untaten aus, nur um der samstäglichen Beichte willen.

Die Beichtstühle in unserer Kirche waren hölzerne gotische Ungetüme aus dunkel gebeizter Eiche. Sie standen auf Podesten an den Wänden der Seitenschiffe. Ich erinnere mich, als Kind immer mit klopfendem Herzen und nervös in den Dämmer des Beichtstuhls gekrochen zu sein, wo sich mir hinter einem geschnitzten Gitter ein Ohr zuwandte, nur schemenhaft zu erkennen, weil das Gitter von innen mit einer Spuckschutzfolie abgedeckt war. Ähnlich nervös muss auch mein Urgroßvater gewesen sein, als meine Mutter ihn an den Beichtstuhl führte, wo er in der Aufregung am Podest zu kurz trat, stolperte, nach vorne stürzte und Halt am Beichtstuhl fand. Der muss wohl schlecht in der Wand verankert gewesen sein. Jedenfalls neigte er sich nach vorne zu und stürzte mitsamt dem Pastor darinnen krachend auf die Kirchenfliesen. Meine Mutter konnte den Großvater gerade noch zur Seite ziehen, aber der Herr Pastor lag am Boden und kroch belämmert aus den Trümmern seines Gehäuses.
St. Martinus (Nettesheim)6Wo sich der Beichtunfall zutrug – St. Martinus zu Nettesheim – Foto chris06 via Wikipedia

Wann immer meine Mutter diese Geschichte erzählte, habe ich mich nach den Gefühlen des Pastors gefragt. Hat er, derweil er mitsamt Beichtstuhl zu Boden ging, hat er da gedacht, das göttliche Strafgericht wäre über ihn gekommen oder war sein Entsetzen noch größer, weil er im Desaster das Werk des Teufels sah? Der Teufel drückte sich nämlich schon Jahrhunderte in den dunklen Seitenschiffen herum, um all die verschluckten Silben der heiligen Gebete in einem Sack aufzusammeln. Und dann die erleichternde Erkenntnis, derweil Herr Pastor sich verstört aufraffte und sich um Haltung bemühte: „Ach, Sie sind’s nur, Herr Kramer.“ So hieß nämlich mein Urgroßvater. Und mein Urgroßvater sagte beschämt: „Ich muss beichten. Das Malheur mit Ihrem Beichtstuhl auch, Herr Pastor.“

21 Kommentare zu “Es war ein Beichtunfall

  1. Wir haben mit dem Schreiben eine Form der Beichte gefunden, die es uns erlaubt, Erfundenes und Erlebtes so zu mischen oder Erlebtes als Erfundenes und umgekehrt auszugeben, dass wir schließlich selber manchmal nicht mehr wissen, was wahr ist. Das erlaubt es, alles öffentlich zu erzählen und anschließend davon zurückzutreten, weil man ja Autor und Protagonisten nicht verwechseln sollte. Dummerweise können wir uns nur selbst vergeben und das gelingt nicht immer. Da ich evangelisch-lutherisch erzogen wurde, na, sagen wir aufgewachsen bin, war mir die Beichte in der von dir beschriebenen Form nur als etwas Geheimnisvolles bekannt, das den katholischen Kindern passierte und ich war sehr froh, mir keine angemessenen Sünden einfallen lassen zu müssen.

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    • Bis in die 1990-er Jahre waren Kindheitserinnerungen mir noch präsent. Wenn ich heute derlei aufschreibe, entgleitet mir die Erinnerung, verwischen sich Erlebtes, Gehörtes und Fiktion, letztlich wird die Erinnerung durch die erzählte Erinnerung ersetzt. Es geschieht im menschlichen Gehirn ständig. Jede geweckte Erinnerung ist eine Neuinszenierung auf der inneren Bühne und lässt vorangegangene Erinnerungen vergessen. Wenn wirs aufschreiben, wird es greifbar. Überdies bin ich glücklich, wenn sich etwas aus dem täglichen Erleben in Fiktionales einbetten lässt und sich Geschichten dadurch lebendiger und farbiger gestalten.
      Die Ohrenbeichte ist eine seltsame Erfahrung. Was man dort bekennt, muss aufrichtig sein, sonst ist die Beichte ungültig. Das erinnert mich zu erzählen, wie und warum ich zum Gottesräuber wurde. (Kommt morgen)

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  2. Vor diesem Beichtstuhl hatte ich auch als junges Mädchen einen Höllenrespekt. Vor allem wegen der Peinlichkeit jemandem etwas sagen zu müssen, was ich sogar mir selbst lieber verschwiegen hätte. Jegliche Beklemmung vor dem Kirchenmobiliar nahm mir vor einigen Jahren eine in der Kirche sehr aktive Kaffeefreundin. Sie erzählte in der Runde, man habe in der Sakristei und drumherum gründlich aufgeräumt und stand nun da mit allerlei Kram. Der Pastor habe vorgeschlagen, die Sachen in den Beichtstühlen unterzustellen, da man die nicht mehr brauche. Diese Form der Beichte würde nicht mehr praktiziert. Als man sich daran machte, die Sachen hineinzustellen, waren beide Beichtstühle schon bis obenhin voller klerikalem Sperrmüll.

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  3. Von den Beichtstuhl hatte ich nie Angst. Vielleicht weil ich schon vor meiner Kommunion mit meiner Oma so oft in der Kirche war und draußen gewartet habe bis sie fertig war. Vielleicht auch weil mein erster Religionslehrer unser Stadtpfarrer war und sich geschickt anstellt und die Angst vor der Beichte zu nehmen. Mich hatte er allerdings einmal zur Seite genommen und mir ganz ernst gesagt, dass ich nur das beichten soll, was ich auch wirklich angestellt habe. Ich war da wohl etwas kreativ weil es mir unsinnig erschien diese Kleinigkeiten in so feierlichen Ambiente vorzutragen.

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  4. Als Kind wurden wir zur beichte geführt und wir wussten meist oder fast immer nicht was wir beichten sollten und haben uns so Sachen ausgedacht wie :“ Ich habe am Freitag Fleisch gegessen…!, was nicht stimmte, denn in meiner Familie gab es an einem Freitag nie Fleisch. Aber ich war froh mir einige Sünden zusammen gekratzt zu haben.

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  5. Pingback: Das hat Ignatz umgeworfen

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