An einen unreinen Reim meiner Mutter muss ich denken, indem ich mein Notizbuch aufschlage: „Ich bin ein dummer Esel, kann schreiben und es selbst nicht lesen.“ Es wird wohl ein Vers aus ihrer Schulzeit gewesen sein, als Lehrer Tiervergleiche bemühten, um eine unleserliche Handschrift anzuprangern. Meine Notizen sehen aus, „als wäre ein Hahn übers Papier gelaufen.“ Entschuldigung? Ich schrieb im Bus mit dem Notizbuch auf den Knien. Neben mir saß Anna und machte es genauso. Ihre Idee: „Wir schweigen zehn Minuten und schreiben auf, was wir in dieser Zeit sehen.“
Start am Lindener Markt. Montagnachmittag etwa 17:10 Uhr. Vor dem Eisladen stehen Leute mit Eis. Den Fußweg blockiert ein E-Roller. Im Beet rund um einen Baum, der Fachbegriff ist „Baumscheibe“, prunken die gelben Osterglocken. Ich bin immer geneigt zu denken, das sollen die noch nicht. Zu kalt und zu früh. Wenn du mich fragst, wer die Welt so beschleunigt, dass der Frühling ins Jagen kommt, dann sind es die Osterglocken. Osterglocken treiben den Frühling voran wie Peitschen einen Kutschgaul. Trotzdem bitte ich darum, keine Osterglocken niederzutrampeln. Keiner sagt, dass diese Barbarei den Frühling verlangsamt.
Aber was zum Teufel heißt das? Ich hätte nicht fünf Tage bis zur Niederschrift warten sollen. Am darauffolgenden Dienstag hätte ich alles noch erinnert.
Frau drückt Kippe aus, am Ihmezentrum. Vermutlich an einem überquellenden Mülleimer. Ein Mann trinkt eine Flasche leer und stellt sie sorgsam an eine Hausecke, seine milde Gabe für Flaschensammler. Weiter unten (nicht im Bild) steht etwas von einem Mann mit Mietfahrrad, das nachfolgende Verb unleserlich. „Trithemius, setzen, sechs!“
Damit Anna und ich überhaupt zusammen im Bus sitzen konnten, ging dem etwas Kurioses voraus: Wir waren auf dem Weg zu Bushaltestelle, als der Bus von der Seite einbog und weiter voraus hielt. Anna lief vor, ich aber lief nicht. Es geziemt sich nicht in meinem Alter, einem Bus hinterherzulaufen. Ich sah sie einsteigen, zischend schlossen sich die Türen, doch als ich an der hinteren anlangte, öffnete sie sich. Anna hatte dem Busfahrer gesagt:
- „Der ältere Herr müsste bitte auch noch mit.
Sonst weiß ich nicht, wo ich aussteigen soll.“
Hast du dafür Worte?
- UPDATE 08.03. Die letzte Notiz auf dem Zettel bedeutet:
„Vor dem Café Safran sitzen schon Leute … in der Sonne.“
Ach wie herrlich – da saßen wir tatsächlich (!) im gleichen Bus 😉
Danke für das Spiel, lieber Jules!
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Danke für die Idee, liebe Anna!
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Das war richtig pfiffig von dem Mädchen.
Und das mit dem älteren Herrn ist ja wahrheitsgetreu und klingt auch nicht respektlos.
Mit dem: „Sonst weiß ich nicht, wo ich aussteigen soll.“ macht sie sich sogar kleiner, als sie ist. Tolles Mädchen.
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Ooops… beim Lesen entstand bei mir der Eindruck, dass es sich bei Anna um ein kleines Mädchen handelt. Jetzt erst lese ich diese Geschichte im Blog einer großen Anna… hihi.
Das „Tolles Mädchen“ lasse ich da oben aber stehen 😉
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Dein Glück 😉 – ich war schon kurz davor mich gegen unangemessene geschlechtsspezifische Verniedlichung zu wehren, hatte aber schon einen Irrtum vermutet! 😏
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Am Ende geht es dem Wort noch ganz an den Kragen: Mädchen = die kleine Magd, vergl. Mägdlein.
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Ok, jetzt wehre ich mich dann doch: 😏
Sooo klein und/oder jung bin ich nicht. Mit „tolle Frau“ könnte ich leben, aber mit „toller Mensch“ noch viel besser
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Was soll denn der ältere Herr erst sagen?
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(Ich schwanke in dieser Sache mittlerweile zwischen herzlichem Weiternecken und respektvollem Ruhenlassen….)
Was wäre dir denn lieber gewesen als Formulierung?
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Die Formulierung ist sogar sehr schön. Nur die Tatsache stört mich ein bisschen 😉
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Den tollen Menschen vermute ich auch als zutreffender…
In der Tat las ich zuerst Jules Beitrag zuerst und konnte den Zusammenhang nicht erkennen.
Lieben Gruß, Ihr tollen Menschen!
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Es war ja auch nicht zu erwarten, lieber Lo. Die realen Begegnungen gibt es nicht so oft. „Toller Mensch“ kann ich bezüglich Anna Socopuk bestätigen.
Lieben Gruß
Jules
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@Jules: Dito 🤗
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Lieben Gruß zurück, du auch toller Mensch!
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Ja, ist denn heute der Tag der Komplimente? No, der war am 24. Januar.
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Ihr seid köstlich ihr Zwei…
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Vielen Dank, lieber Wolfgang!
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Aber gerne lieber Jules, eine gute Zeit noch mit Anna!
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Sie ist schon wieder daheim.
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ach so na dann trotzdem noch einen schönen Tag.
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Seit langem mal wieder ein so hochwildwüstschöner Kommentarstrang…klasse!
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Ich danke dir für die Beteiligung daran, du Meisterin der wundersamen Neologismen.
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Ich erlebe es inzwischen auch, dass jüngere Menschen im Bus für mich aufstehen.
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Ist mir tatsächlich noch nicht passiert, liegt aber wohl daran, dass diese Form der Höflichkeit nicht mehr zum Kulturgut zählt.
Danke für deine Solidarität.
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Eine feine Idee. Ich hab den dazugehörigen Beitrag noch nicht gelesen, hole es gleich nach. Aber schon so, für sich alleine, mag ich diese einfachen Betrachtungen des Alltags.
Außerdem, lieber Jules, hast du mich erinnert, dass Osterglocken ein viel schöneres Wort als Narzissen ist.
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Rate mal, wer keine Ahnung hatte, dass Osterglocken Narzissen sind, liebe Mitzi? Dankeschön für den Hinweis! Habe mich jetzt schlau gemacht und fand auch den Namen Märzenbecher – im Grimmschen Wörterbuch noch Märzbecher, was mir ebenfalls gut gefällt.
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Oh ja, das ist auch ein hübsches Wort. Ich habe meinen heutigen Text jedenfalls gleich geändert und die Narzissen verbannt 🙂
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