Sonntagabend, ich will einen Gast vom Bahnhof abholen. Nachdem ich in die Straßenbahn der Linie 9 gestiegen bin, sehe ich einen leeren Vierersitz und setzte mich in Fahrtrichtung auf den Fensterplatz. Erst jetzt nehme ich wahr, dass auf dem Platz neben mir ein halbkugelig belegter Teller spazieren fährt. Er ist mit einer Alufolie abgedeckt. Jemand hat sie ein wenig aufgerissen, offenbar um zu sehen, was sich unter der Alufolie verbirgt. Ich sehe etwas Schokobraunes, vermutlich Kuchen. Nachdem ich meine Gästin abgeholt habe, fahren wir mit der Straßenbahn zu mir. Der Teller ist immer noch unterwegs. Aber jemand hatte ihn auf einen Zweiersitz gestellt. Oder der Teller ist bis zur Endhaltestelle Fasanenkrug mitgefahren, stellte dann fest, dass die Bahn dort auf einem Gleisrund dreht und die gleiche Strecke zurückfährt. Da beschloss der Kuchenteller, sich umzusetzen, der neuen Eindrücke wegen. In diesem Fall jedoch hätte der vorwitzige Schokoladenkuchen die Alufolie selbst aufgerissen, um zu sehen, wo man ihn schnöde vergessen hat.
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Freund Nebenmann sandte mir eine E-Mail und berichtete von einem „Tragikomischen“ Erlebnis bei einem Baumaschinenverleih und Handel für Baumaterial und -Werkzeuge:
Er suchte nach einer bestimmten Rost-Grundierfarbe, als er ein paar Regalreihen weiter lautes Geschrei vernahm: „Nein, Atemschutz haben wir nicht mehr, alle Atemschutzmasken sind verkauft! Nutzt sowieso nichts! Ist alles nur Psychologie! Ist reine Psychologie!“
Nebenmann fuhr fort: „Da waren einige tatsächlich auf die Idee gekommen, weil in den Apotheken nichts mehr zu haben war, Arbeitsschutzmasken zu hamstern. Grotesk!“
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Auf dem Aldi-Parkplatz geht eine Frau telefonierend auf und ab. Im Vorbeigehen höre ich: „Du weißt ja, nett ist der kleine Bruder von Arschloch!“ Diese Variante hatte ich zuvor noch nicht gehört. Entweder ist die Wandlung von „Schwester“ zu „Bruder“ sowie die Umdeutung von „scheiße“ zu „Arschloch“ sinnvoll, was sich nicht entscheiden lässt, weil wir nur einen Dialogpart kennen, oder es handelt sich um gehört, vergessen und falsch zusammengereimt, was ja ein kräftiger Motor der Sprachentwicklung ist.
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Mir ist übrigens ein Aufstieg des Wortes „tatsächlich“ aufgefallen. Mit der Betonung auf der zweiten Silbe wird es immer häufiger in die Rede eingestreut. Erstmals fiel mir das auf vor einem Jahr in einem Beitrag der ARD-Tagesthemen über den Brand der Kathedrale von Notre Dame. Eine junge Touristin berichtete gut gelaunt folgendes: „Wir haben das gestern im Flugzeug, gerade als wir gelandet sind, erst erfahren, haben das aus dem Flugzeug auch schon gesehen, dass das gebrannt hat, tatsächlich, und eh, ja, natürlich schade. Eine Sehenswürdigkeit, die natürlich sehr wichtig ist als – Kulturerbe.“
[Klick aufs Bild führt zur ARD-Mediathek, zu sehen ab 3:10]
Offenbar bietet in Zeiten von Fake News das mit eigenen Augen/Ohren Gesehene/Gehörte tatsächlich den erstrebten Halt. Ich bitte die werte Leserschaft ihrerseits auf „tatsächlich“ in der wörtlichen Rede zu achten und mir davon zu berichten, wie und wo, in welchem Kontext „tatsächlich“ aufgetaucht ist.
Ich dachte nett ist die kleine SCHWESTER von scheisse
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So ist es korrekt, glaube ich. Danke für den Hinweis. Ich habs im Text geändert.
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Mein Kommentar war allerdings eher scherzhaft gemeint. Du weisst ja, man soll nicht immer alles unter einen Hut scheren. Und ich hab immer einen lustigen Spruch auf den Rippen. 😉
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Herrlich! Das schlägt dem Fass den Boden ins Gesicht. 😉
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„tatsächlich“ höre ich eher selten, die jungen Leute streuen nur viel zu viele „genau“ -s in ihre Reden,finde ich. Genau!
🙂
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Danke für den Hinweis auf „genau.“Scheint ja einem ähnlichen Bedürfnis von „tasächlich“ zu entsprechen.
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… Und alte Leute streuen oft zu viele „früher“ in ihre Reden…
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Genau
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Tatsächlich: du bist jung!
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@ Anna
„Der ältere Herr“ hofft, dass er nicht gemeint ist. 😉
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Nein, der ganz sicher nicht!
Wie gehts dem Bustext? Meiner zappelt schon in der digitalen Schublade 😉
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Da bin ich froh. Den Bustext schreibe ich morgen, inklusiv „Der ältere Herr muss auch mit.“
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Tatsächlich benutzt unser studierender und durchaus kritischer Sohn „tatsächlich“ unangemessen häufig zur Verstärkung oder Bestätigung von Aussagen, was ich tatsächlich mit eigenen Ohren gehört habe. „Tatsächlich“ wird auch vom hippen Radiomoderator auf 1 Live tatsächlich gerne einer Bemerkung bzw Anmoderation vor- oder zwischengeschoben und ist das neue „also“. Ich vermute ebenso wie du, dass es sich tatsächlich um eine unbewusste Massenreaktion junger Gemüter auf Fake News und das Leben in digitalen Zeiten handelt.
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Dankeschön für die fundierten Beispiele und die dezidierte Bestätigung meiner Beobachtung und These, liebe Andrea.
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„Ehrlich gesagt“ ist auch so eine anti-Weichspüler-Floskel…
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Andere Baustelle.
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Tatsächlich und eindeutig dem Gesichtsausdruck der jungen Dame zu entnehmen, freute sie sich tatsächlich am meisten, von einem Reporter des WDR interviewt zu werden. Der Rest, entnehme ich ihrer Mimik, ist ihr scheißegal…
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Tatsächlich gut erkannt, lieber Herr Ösi. Ich dachte beim Sehen: „Mädel! Hörst du wohl mal auf zu grinsen!“
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vielleicht ein Amerikanismus, eingedeutscht? (in fact)
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Ich glaube eher zu lat. factum. Aber „Tatsache“ ist tatsächlich eine Lehnübersetzung aus engl. „matter of fact.“ „Tasächlich“ wohl die Ableitung.
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