Nenne mir deinen Namen und ich sage dir, wie du heißt

Im Wartezimmer sitzen fünf Frauen und ein Mann. Die Tür geht auf, und es wird gerufen „Frau Bär!“, wenig später „Frau Beckmann!“, dann „Herr Stolpe!“ Eine alte Frau tritt ein und wird sogleich zurückgerufen: „Frau Bretthauer!“ Zuvor sitzt man stumm beisammen, hat sich heimlich gegenseitig ein bisschen gemustert, und plötzlich erfährt man die Namen dieser unbekannten Personen, so dass man denkt: „Aha, du bist also Frau Bär! Dein ganzes Leben schon hörst du darauf, es sei denn, du hättest erst kürzlich einen Bären geheiratet und den sogenannten Mädchennamen abgestreift wie eine alte Jacke.“

„Namen sind Schall und Rauch“, heißt es schon wo? Im Zweifel bei Goethe. Um mir Frau Bär, Frau Beckmann, Herrn Stolpe und auch Frau Bretthauer zu merken, musste ich ein mnemotechnisches Verfahren anwenden, da ich mein Notizbuch vergessen hatte. Es wäre sowieso heikel gewesen, die Namen einfach zu notieren. „Datenschutz!“ Darf man unter datenschutzrechtlichen Bestimmungen die Namen der Anwesenden einfach in ein Wartezimmer rufen? Der höhere Wert ist hier sicherlich, dass Menschen in Erwartung, Patienten zu werden, wie Personen behandelt werden sollten und nicht wie anonyme Nummern mit verschiedenen Symptomen und Krankenversicherungen. Denn wenn sie auch Schall und Rauch sind, also flüchtig, wenn sie in die Welt gerufen werden, so sind doch amtliche Namen Teil der Persönlichkeit. Und angenommen, man gerät in die Mühlen einer diagnostischen Apparatemedizin, sind die Namen fast das einzige, was einen noch in der Normalität des Alltagsleben verankert.

Frau Bär, Frau Beckmann, Herr Stolpe, Frau Bretthauer haben sich aus Gründen am 14. Januar 2020 ins Wartezimmer einer Arztpraxis in Hannover gesetzt. Das geht niemanden was an, weshalb es nur öffentlich ausgerufen wird, aber nicht ausgeschrieben, es sei denn, im Wartezimmer sitzt ein Tünnes, der mnemotechnische Verfahren anwendet mit dem Ziel, sich über Namen auszulassen.

Mein Jugendfreund Fritz (Name geändert) sandte mir aus meiner alten Heimat eine Publikation des Geschichtsvereins unseres Dorfes. Das Heft ist den sogenannten Spetz- und Heeschnamen gewidmet, für mich eine Wiederbegegnung mit Lüüsch Alwiss, Kissels Lambät, Jönne Jupp, Manschette Mattes, Frosch Hannes, Fitsch Ohm, Böngte Pockel und vielen Namen mehr, derer man sich im mündlichen Alltag bediente. Wollte man den amtlichen Namen wissen, fragte man “Wie schrieve die sech?“ (Wie schreiben die sich?) worin sich nicht nur die Erkenntnis andeutet, dass die Familiennamen eine Erscheinung der Schriftsprache sind, sondern auch die Achtung vor der orthographischen Selbstbestimmung der Familie zeigt. So wird ja auch niemand ernsthaft die Familie Meyer zu belehren versuchen, die orthographisch richtige Schreibweise ihres Namens sei Meier. Mehr dazu in „Buchkultur im Abendrot.“

Ich in den 1980-er Jahren auf dem Fahrrad von Jönne Jupp, das er mir bei einem Besuch meiner Heimat geliehen hat. Filzstiftzeichnung aus dem Jahr 1991 nach einem Foto. (Zum Vergrößern bitte klicken.)

Jönne Jupp schrieb sich Josef Schmitz, ein Bauer und ehemaliger Dorfbürgermeister. Er war wohl ein Schulfreund meiner Mutter. Wenn er hörte, dass mein Schwager sie zu mir nach Aachen fahren würde, lud er einen Sack Kartoffeln für mich in den Kofferraum des Autos, damit ich armer Student nicht hungern musste. Ich habe mich nie persönlich bedanken können, doch ihm in einem fiktiven Text ein kleines Denkmal gesetzt, der hier morgen zu lesen ist.

13 Kommentare zu “Nenne mir deinen Namen und ich sage dir, wie du heißt

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