Der ich schon früh Verantwortung übernehmen musste, bei der Geburt meines ältesten Sohnes war ich 22 Jahre jung, habe ich lange Zeit nicht geübt, auf eigene Bedürfnisse gut zu achten. Das hielt noch an, als ich die Phase des Familienlebens hinter mir hatte. Lange gelebte Verhaltensweisen lassen sich eben nicht einfach abschütteln. Für meine Freundin Lisette war ich „vom Stamme Gib“, sie „vom Stamme Nimm“, wie sie selbst eingestand. Selbst ihr offen gelebter Egoismus vermochte nicht, dass ich besser auf eigene Bedürfnisse geachtet hätte, obwohl ich mir sonst einiges von ihr abgeschaut habe.
Bei den folgenden vier Beziehungen, die überwiegend Fernbeziehungen waren, zeigte sich das alte Muster. Nur wenn die Damen bei mir zu Besuch waren, lief ich morgens zum Bäcker, um frische Brötchen zu jagen. Am fremden Ort rannte ich natürlich ebenfalls brav zum Bäcker. War ich wieder allein, kaufte ich für mich Aufbackbrötchen.
Seit nun zwei Jahren gehe ich morgens für mich zum Bäcker. Das zwingt mich schon am Morgen vor die Tür. Ich kann sehen, ob die Welt noch der vertrauten euklidischen Geometrie entspricht und sich nicht etwa in der Nacht verformt hätte wie in Bildern des Maurits Cornelis Escher. Man sollte nicht unverständlich den Kopf schütteln. Es gibt keine Gewährleistung für die Festigkeit der Welt. Für meinen Kreislauf ist der morgendliche Kontrollgang auch gut, falls ich nämlich den Rest des Tages zu beschäftigt bin und nicht mehr rausgehe.
Doch der beste Effekt dieser neu geübten Verhaltensweise: Ich stieg in meiner eigenen Wertschätzung, weil ich für mich tue, was ich früher nur für diverse Frauen getan habe. Die Folge ist, dass ich mich einfach besser leiden mag und die Wertschätzung einer Beziehungspartnerin nicht vermisse. Wer mit sich selbst unglücklich ist, sollte sich fragen, ob es nicht mit Verhaltensmustern zusammenhängt, die ich oben geschildert habe. Dann gibt’s einen einfachen Hebel, das zu ändern: Verantwortliche Selbstsorge – ein Lebenskonzept, dessen Beachtung nach Meinung antiker Schriftsteller allein berechtigt, ein gutes Leben zu führen. Aber bitte nicht gleich die ganze Welt aus den Angeln heben. Ich kontrolliere das direkt morgen früh.
Verantwortliche Selbstsorge ist nicht Egozentrik. Es gilt weiterhin, den Mitmensch zu beachten. Bei der Selbstsorge geht es darum, die Balance in der Wertschätzung zu finden – gleichermaßen für sich und andere.
Meine ehemalige Kollegin kauft für sich jeden Freitag einen sehr schönen Blumenstrauß. Warum? Weil es ihr Ehemann nicht tut, also übernimmt sie die Verantwortung für ihre Wünsche und Bedürfnisse. Mich hat das jede Woche beeindruckt, wie wunderbar sie sich selbst beschenkte und Selbstliebe ausstrahlte.
Herzliche Grüße
Serap
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Ist ja eigentlich schade, dass es ihr Ehemann versäumt, sie mit Blumen zu erfreuen. Ich fürchte, wenn einer das ständig demonstriert, wirds mehr und mehr enttäuschen und verletzten.
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Wenn der Ehemann glücklich damit ist, dass sie sich (in diesem Punkt) um sich selbst kümmert, ist es doch okay. Glaube nicht, dass es ihn seit 30+ Jahren verletzt. Dafür macht er ja genug anderes, um seine Ehefrau glücklich zu stimmen. Blumenkaufen ist eben nicht seins. Wahrscheinlich ist es die Balance, die es ausmacht.
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Lieber Jules, wie wunderbar! Ich bin ganz gerührt, denn die Brötchen sind der konkrete und dennoch sehr symbolische Ausdruck einer großen inneren Bewegung.
Der nächste Schritt wäre vielleicht, wenn du dir mal Brötchen mitbringen lässt und so das Nehmen übst. Gelegenheit wird sich finden 😉
Herzlich, Anna
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Liebe Anna
„große innere Bewegung“ gefällt mir. Es ist auch gut, was du als Folgeschritt benennst. Da es derzeit nicht geht, will ich deswegen nicht hadern.
Herzlich
Jules
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Fein geschrieben, lieber Jules. Eine große Liebe geht nie so ganz. Sie bleibt- in Form von Erinnerungen, von Gefühlen oder einer Lieblingstasse, ein paar Lieblingsformulierungen, Eigenwörtern oder der Art zu lächeln. Dann wird es auch Selbstfürsorge. Etwas bleibt, das Wert hat. Brötchen vom Bäcker sind etwas ganz Feines. Komisch…ich geriet immer an die falschen wie es scheint…keine Blumen, keine Brötchen, dafür zauberte ich Frühstück ans Bett. Könnte mich jetzt Schmollen machen, tut es jedoch nicht. In Memoriam entzückter Lächeln mehr oder wenig selig Verflossener…
Fürsorge ist eine sehr schöne menschliche Eigenschaft.
In jedweder Form.
Eine kluge Lektion hast du geschrieben.
Liebe Grüße,
Amélie
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Dankeschön, liebe Amélie ,
ich habs einfach so runtergeschrieben. Was du über die große Liebe sagst, kann ich bestätigen. Aber nach jetzt 15 Jahren sind Lisette und ich nicht mehr dieselben Menschen. Ich wollte kein asymmetrische Beziehung mehr, keinesfalls, wie du sie umgekehrt auch kennst, nach allem, was du schreibst. Üben wir uns also in verantwortlicher Selbstsorge.
Lieben Gruß
Jules
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Dies ist eine ungemein wichtige Erkenntnis, die eigentlich alle sich zu Herzen nehmen sollten (je früher, desto besser). Verantwortliche Selbstsorge ist es, was uns von der ontologischen Auflösung rettet. Diese Eigen-Wertschätzung zieht nach sich auch die Wertschätzung seitens anderer.
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Du hast Recht, wer sich selbst schätzt, wird auch geschätzt. Damit es nicht wie Egoismus aussieht, ergänze ich um die Wertschätzung, die man den Mitmenschen entgegen bringen sollte..
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Selbstliebe ist die Basis. Wer genug davon hat, den können Auseinanderentwicklungen nicht vom Sockel schubsen. Selbstliebe könnte ein Vorsatz sein. Die führen bekanntlich abseits aller Himmel. Also mal nicht übertreiben mit aller Liebe, sagt die Vernunft. So ein Quatsch, meint das Herz dazu. Denn es will schreiben. William von Baskerville aus Umberto Ecos Name der Rose meint:
„Wie ruhig wäre das Leben ohne die Verliebungen. Wie friedlich, geordnet und ruhig. Und wie unsäglich langweilig…“
Solange ich dieser Aussage bedingungslos zustimme und eben nicht überall Ruhe suchte und sie nur noch in Büchern finde, lebe ich mit allen Sinnen.
Philosophisch betrachtet, könnte dies als unklug bezeichnet werden. Doch Menschen faszinieren mich dafür eben viel zu sehr. Und mal ehrlich: Stellt Euch vor, es gäbe wen an Eurer Seite. Der geht für Euch Brötchen holen und liebt Euch, weil nämlich Ihr es seid oder besonders weil nämlich Du es bist.
Es müssen keine Brötchen sein. Ein aus den Augen gelesener still gesehener und erfüllter Wunsch reicht.
Kein Märchen, kein künstlicher Idealismus. Ein Nahmensch, der mitgeht, der sich mitentwickelt.
So. Nur so geht es.
Puh, breche ich hier gerade eine Lanze? Für Verlieben?
Huch. Michails Wasnezows Recke am Scheideweg.
Mit Herz auf der Zunge und ohne Vernunft so für Dich runtergeschrieben.
Liebe Grüße,
Amélie
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Meine Liebe, brich du nur ruhig eine Lanze fürs Verlieben. Es gab eine Zeit, da hätte ich dir zugestimmt, hab auch gut gefunden, dass es das laute Jaja, Neinnein in meinem Leben gab. Sogar, dass sich mein Denken verengte und nur noch um eins kreiste. Heute sind mir meine Gedankenfreiheit und die Seelenruhe heilig.
Lieben Gruß
Jules
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Das weiß ich Jules und glaube mir: ich kann Dich nur zu gut verstehen. Es ist auch schlecht, wenn Liebe das Denken blockiert. Dann ist sie nicht gesund. Wenn sie gesund ist, inspiriert sie und schenkt Kraft.
Weil sie Vertrauen sein darf.
(Ich horte einen ganzen Wald Lanzen extra nur für Liebe.)
psssst….Bitte nicht weitersagen….
Liebe Grüße von Amélie
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Wir sind ja hier unter uns 😉
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Genau🙈
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Danke für Deinen recht persönlichen Einblick. Das Beachten der eigenen Bedürfnisse ist wahrlich eine Kunstform und bedarf der ständigen Überprüfung. Es ist ein schmaler Grat zwischen Egoismus und Selbstvergessenheit.
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„Es ist ein schmaler Grat zwischen Egoismus und Selbstvergessenheit“, das sollte sich mancher hinter den Spiegel stecken.
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