Einstürzende Altbauten – eine gruselige Groteske – 2

Ein Glück, ich schließe die Flügeltür und sperre die Deppen aus. Dann verberge ich mich in der selten genutzten Bibliothek, ganz hinten, wo das voluminöse dreibändige Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens steht. Ich warte, bis alle gegangen sind und der bocksbeinige Hausmeister seine letzte Runde gemacht hat.

Es ist still. Kein Getrappel mehr von den Stöckelschuhen der Sekretärinnen auf den Gängen, keine leisen Flüche, kein Ächzen und Maulen mehr der studentischen Hilfskräfte, kein Schlagen von Türen. Endlich bin ich allein. Welch ein erbärmliches Leben ich doch führe, so abhängig von der Gunst vieler Menschen und allzeit gezwungen zu machen und zu tun, um meinen kargen Unterhalt zu sichern. Mein Kummer überwältigt mich. Unter dem riesigen Wandbild des heiligen Aldebert sinke ich auf die Treppe und starre vor mich hin.

Das Bild zeigt den Heiligen Aldebert aus Gallien zusammen mit dem Erzengel Michael. Im Hintergrund ist eine leere, wellige Landschaft zu sehen. Der Erzengel Michael steht am linken Bildrand, wendet dem Betrachter den Rücken zu. Sein mächtiger rechter Flügel geht beinah diagonal durchs Bild, ist oben und unten angeschnitten. Rechts davon, etwas zurück, steht Aldebert. Auch seine Gestalt ist am unteren Bildrand auf Hüfthöhe begrenzt. Er trägt ein blaues Gewand und eine dunkelgelbe Kapuze. In seiner Linken hält er einen Apfel, als wäre er im Begriff gewesen, hinein zu beißen. Da aber ist der Erzengel Michael gekommen und hat die himmlische Post gebracht. Mit der Rechten hält Aldebert das Schreiben in Augenhöhe von sich weg und scheint darin zu lesen.

Stilistisch gehört das Gemälde zur Wiener Secession. Coster hatte es dem Maler Martinus Kurzweil zugeordnet, was sich aber nicht beweisen ließ. Dieses Ölgemälde ist sonderbar, nicht nur, was den Bildaufbau betrifft, sondern auch sein Sujet. Aldebert lebte im 8. Jahrhundert und wurde schon zu seinen Lebzeiten vom Volk als Heiliger verehrt. Ihm folgten Heerscharen von Frauen nach. Seine Nägel und Haare wurden als Heiligtümer angesehen und weitergegeben. Aldebert behauptete, er verfüge über ein Schreiben von Jesus Christus persönlich. Es war in Jerusalem vom Himmel gefallen und vom Erzengel Michael aufgehoben worden.

Text der Admonitio generalis von 789 in einer Handschrift des späten 9. Jahrhunderts aus Saint-Remi (Paris, Bibliothèque Nationale de France, lat. 10758, fol. 50r) – via Wikipedia

Himmelsbriefe fielen im 8. Jahrhundert in großer Zahl. Im Jahr 789 mahnt Karl der Große in seiner Admonitio generalis, solche Werke sollten nicht gelesen, sondern verbrannt werden, damit sie das Volk nicht mit Lug und Trug bedecken. Der Hl. Bonifatius nannte Aldebert einen „betrügerischen Geistlichen, Irrlehrer, Schismatiker, Diener des Satans und Vorläufer des Antichrists“. Er warf Aldebert vor, seine Anhänger bestochen zu haben, damit sie verkündeten, sie wären durch seine Wunderkraft von ihren Gebrechen geheilt worden. Aldebert wurde unter dubiosen Umständen von wegelagernden Schweinehirten erschlagem. Coster will dieses blasphemische Gemälde auf dem Flohmarkt in Lüttich erstanden haben. Jedenfalls hängt es schon seit gut 20 Jahren im Treppenhaus des pataphysischen Instituts und verstört die Besucher.

Was habe ich im Leben schon alles verscherzt, was nimmer mehr gefunden werden kann, du machtloser Schutzpatron derer, denen die Schweinehirten auflauern. Inzwischen ist die Dämmerung herabgesunken. Obwohl ich unbequem sitze, muss ich eingeschlafen sein.

Als ich erwache, herrscht ägyptische Finsternis. Meine tastende Hand geht rundum ins Leere. Hier muss doch irgendwo eine Wand sein. Jedes Gebäude, sei es noch so groß, hat irgendwo Wände. Da, erleichtert fühle ich den Leimverputz. Und da ist auch ein Lichtschalter! Ich presse den Taster. Es geschieht nichts. Der Schalter ist tot. Ein Gedanke schnürt mir den Hals zu: Wenn jetzt von hoch oben aus dem Treppenhaus ein Nachtmahr sich herabließe, mir ins Genick springt und mit seinen ekligen Klauen nach meinen Ohren greift, um mich nach seinem bösen Willen herumzuführen?! Meine zagenden Füße ertasten Stufen. Ich tappe hinab, stolpere, raffe mich wieder auf, tappe weiter – ans Licht! Ans Licht! Helft, ihr Götter, helft! Da muss denn wohl eine säumige Putzfrau einen vollen Eimer stehen gelassen haben. Mit dem rechten Fuß gerate ich hinein, der Eimer fällt um, ich schlage lang hin, und das Putzwasser schwappt in meinen Rücken.

Wie ich in die Empfangshalle gekommen bin, weiß ich nicht genau. Die Talfahrt ging jedenfalls rasch, eine Spirale hinab, das Putzwasser auf den Stufen war ein gutes Gleitmittel. Aber mein Rücken, meine armen Knochen! Mit dem Kopf muss ich irgendwo angeschlagen sein. Ich ertaste eine Beule und eine blutende Schramme über meiner linken Augenbraue. Wenigstens wirft das alberne Aquarium an der Hausmeisterbude einen trauten Schein. Die nassen Kleider ziehe ich aus und hänge sie zum Trocknen auf einen der Heizkörper, worin das Wasser friedlich blubbert. Jetzt kann ich im Dämmer auch die große Uhr ablesen. Ich habe nicht Stunden geschlafen. Es hat sich nur so angefühlt. Die Uhr zeigt erst 21:20 Uhr. Mir ist kalt so nackt, wie ich bin, und wie ich mich umsehe, entdecke ich einen bequemen Sessel, mit einem Tuch überworfen. Ich enthülle den Sessel, packe meinen  geschundenen Körper hinein und wickle mir die Decke um. Plötzlich höre ich Stimmen!

Fortsetzung

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4 Kommentare zu “Einstürzende Altbauten – eine gruselige Groteske – 2

    • Weil du die Wörter lobst, wird mir klar, dass es Schweinehirten nicht mehr gibt, weil man Schweine heute nicht mehr ins Freie lässt, sondern sie in Metallkäfige zwängt, wo sie sich kaum bewegen können. Mir als ehemaligem Katholiken, sind Schutzpatrone geläufig.
      Wie kommst du auf die Assoziation „dürre Protagonistenbeine?“

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