Der Kahle und der Blinde

Der Blinde war nicht wirklich blind, sondern sah einfach nicht viel. Trotzdem nannte ihn der Kahle einen Blinden. Die beiden waren nach einer Zechtour auf dem Nachhauseweg. Sie standen vor einem Fenster und betrachteten eine Winkekatze.
„Sie winkt uns zu!“, sagte der Kahle.
„Wer winkt uns zu?“
„Na, die Winkekatze Manekineko.“
„Was soll sie anderes tun? Ihre Existenz ist Winken. Stell dir vor, du wirst morgens wach und bist diese Winkekatze.“
„Dagegen hätte ich nichts. Mich würde nämlich interessieren, welches Weltbild man als Winkekatze hat“, sagte der Kahle. „Es wäre vermutlich ziemlich beschränkt, bei diesem ausschnitthaften Blick auf die Welt und der eingeschränkten Bewegungsfreiheit, herumzustehen und immer nur den einen Arm rauf und runter zu bewegen, dass es aussieht wie Winken.“
„Bist du sicher, dass dein Blick auf die Welt weniger ausschnitthaft ist?“, fragte der Blinde und fuhr fort: „Die Welt der Winkekatze ist klein und übersichtlich. Was hinter ihr ist, braucht sie nicht zu kümmern, weil sie sich nie umdreht. Vor ihr wird die Welt durch den Fensterrahmen begrenzt. Sie hat alles Notwendige im Blick, was man von dir nicht sagen kann.“
„Wieso? Ich bin nur kahl. Du bist der Blinde.“
„Ich meine, dass dein Weltbild größtenteils aus Vermutungen und Fremdzeugnissen besteht, weil du anders als die Winkekatze deine Welt nicht überblicken kannst. Du guckst hoch in den Nachthimmel, siehst ein paar Lichtpunkte und denkst aha, Sterne, weil man dir gesagt hat, dass da Sterne sind. Ebensogut könnte der Himmel mit dunklem Tuch abgehängt sein, worin sich kleine kreisrunde Löcher befinden und über allem strahlt eine gigantische Glühbirne. In Augenschein nehmen kannst du es nicht, obwohl du nur kahl bist und ich der Blinde bin.“
„Der kosmische Sternenhimmel ist aber allgemeiner Konsens und und gehört zu unserem wissenschaftlich glaubhaften Weltbild.“
„Ein Weltbild, das in seinen Randbereichen immer unklarer wird, letztlich zunehmend vom Konsens abweichende Interpretationen der Welt zulässt. Der ich nur Lichtpunkte und Bewegung wahrnehme, weiß ich wie das ist.“
„Was meinst du?“
„Angenommen du behauptest, dass du letzte Nacht eine japanische Winkekatze warst, hättest die ganze Nacht gewinkt, um den Menschen Glück zu bringen, aber viel zu selten wäre jemand vorbeigekommen. Du hast trotzdem immer weiter gewinkt, denn du konntest ja nicht sehen, ob sich jemand nähert. Für dich mit deinem eingeschränkten Sehfeld tauchen die Passanten immer plötzlich aus dem Nichts auf und verschwinden gleich wieder. Wenn dir dann erst einfällt, den Menschen zuzuwinken, sind sie längst weg.“
„Außer wir, hehe!“
„Wir sind die Ausnahme von der Regel. Innerhalb deines Weltbildes wäre möglich, dass du von deiner Existenz als Winkekatze erzählst. Du könntest darüber in deinem Blog schreiben und die Menschen würden nicht sagen, der ist durchgeknallt, gebt ihm Pillen, legt ihn auf die Couch, damit er wieder zum Konsens zurückfindet, sondern man wird denken, na gut, was er schreibt, ist eine Sorte Untergrundliteratur. Sie ist so abseits vom Konsens unserer Wirklichkeitsvorstellung, weil ihm niemand auf die Finger klopft. Je näher man nämlich dem Zentrum des allgemeinen Konsens ist, desto größer der Zwang, konventionell zu denken.“
Der Kahle sagte: „Je blinder du wirst, desto besser gefällt mir deine Rede.“
Der Blinde tätschelte ihm den Kopf und entgegnete: „Je kahler du wirst, desto lieber streiche ich über deine Platte.“
Dann torkelten sie weiter. Der Kahle begann ausdauernd zu winken.

12 Kommentare zu “Der Kahle und der Blinde

  1. Einfach allen Menschen Glück zu wünschen, nicht abzuwägen, wer da gerade guckt, das ist ja schon mal ein zweifelhaftes Vorgehen. Der eine ist auf dem Weg zu einem Einbruch, die andere hat gerade Gift besorgt, der nächste will Aktien kaufen. Nein, nicht allen winken.

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  2. Wer weiß denn, ob uns die Winkekatze Manekineko tatsächlich zuwinkt? Ebenso möglich, dass sie uns den gestreckten Mittelfinger zeigen will – nur erkennen wirs nicht, weil Katzen ihren Mittelfinger eben nicht strecken können.

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