Requiem für einen verschwundenen Text

Ein Freund von mir hat einen Text verloren. Er hätte ihn schon lange schreiben wollen, er wäre auch schon im Kopf fertig gewesen. Durch eine geringfügige Ablenkung durch mich sei ihm der Text abhanden gekommen, behauptet er. Könnte mir nicht passieren. Ich fange schon an zu schreiben, wenn ich noch gar nichts im Kopf habe, hehe! Allerdings muss ich schon seit Tagen daran denken, was ich kürzlich in Lichtenbergs Sudelbüchern gelesen habe. Er hat 62-erlei Weisen gezählt, „das Gesicht mit einem Ellbogen und einer Hand zu unterstützen“, beispielsweise: „Die meditierende, da zum Exempel der Daumen der rechten Hand an den rechten Schlaf gesetzt, der Zeigefinger aber über die Stirne weggeht und die übrigen Fingen nebst dem Zeigefinger eine Art Schirm über dem Auge formieren. (…)“ [L141]

Derlei differenzierte Selbstreflexion, denn wo anders als an sich hatte er die 62 Weisen beobachten und ausprobieren können, derlei differenzierte Selbstreflexion ist vermutlich versunken wie Lichtenbergs 18. Jahrhundert. Der heutige Mensch ist viel oberflächlicher. Allein die Grenze zu ziehen zwischen den Gesten, ist eine Verstandesleistung, das alles ohne Vorbild zu tun, erst recht. Doch am meisten fasziniert mich die Beharrlichkeit, mit der Lichtenberg ein derart absolut müßiges Beobachtungs- und Klassifizierungsprojekt vorangetrieben hat, ohne einen anderen Beifall als den eigenen zu erwarten, denn dass seine Sudelbuchnotizen jemals veröffentlicht werden würden, hat er nicht erwartet und auch nicht erlebt.

„Der Dichter begann, Zeigegesten zu machen“, betitelte kürzlich Klaus Graf vom Archivalia-Blog einen kleinen Prosatext. Ich fragte mich, was unter dem Plural zu verstehen wäre, – nacheinander mit derselben Geste auf Verschiedenes zu zeigen oder verschiedene Zeigegesten? Wir kennen mehrere:

    1. den Fingerzeig mit dem gestreckten Zeigefinger. Aus den USA ist die Unsitte gekommen, mit dem Zeigefinger auf Mitmenschen zu zeigen, was ursprünglich bei uns verpönt war. Es hieß: „Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute.“ Auf Menschen zu zeigen galt allerdings in der Antike als Geste der Kraftübertragung;

    2. die nach oben sich öffnende Hand, wobei die geschlossenen Finger auf etwas zeigen.

    3. den Mittelfinger zeigen; was weniger eine Zeigegeste ist, sondern ein Vorzeigen des Fingers zum Zwecke der Beschimpfung.

    4. In die Kategorie „Vorzeigen des Fingers“ gehört auch der nach oben gerichtete Daumen. Er zeigt Einverständnis an. Wird er gesenkt, ist Abwertung gemeint.

    5. Aachener in der Fremde grüßen einander mit dem nach oben gereckten kleinen Finger, wobei die anderen Finger zur Faust geschlossen bleiben. Die Geste heißt „Klenkes.“

    6. Die Schläfenschraube wird mit dem gestreckten Zeigefinger ausgeführt. Im Rheinland heißt das, „einen Fimmel zeigen.“ Der Fimmel kann auch verstohlen mit leicht gekrümmtem Zeigefinger an die Stirn getippt werden. Landläufig bekannt ist die Schläfenschraube als Autofahrergruß.

Wie in der Grammatik zwischen zielenden (transitiven) und nichtzielenden (intransitiven) Verben unterschieden wird, beispielsweise „kocht die Suppe“ (transitiv), „kocht vor Wut“ (intransitiv) lassen sich Zeigegesten unterscheiden: 1 und 2 sind transitive Gesten, 3 und folgende sind intransitive Gesten. Sie zeigen etwas, nicht auf etwas.

Als ich diesen Text begann zu schreiben, lauerte weit hinten ein Gedanke, den es noch zu verknüpfen galt. Inzwischen ist er fort und im Orkus versunken wie der Text des Freundes. Leider kann ich es ihm nicht in die Schuhe schieben, denn ich habe ihn gut vier Wochen nicht mehr gesehen.