Vorbemerkung:
Eigentlich sollte das hier ein schöner Reisebericht werden, der auf ein erfreuliches Wiedersehen hinausläuft. Doch der Text wollte in eine andere Richtung, und nachdem ich ihn eine Weile hatte gewähren lassen, wandelte er sich zu einer Allegorie meines Lebens. Ich widerstand der Versuchung, ihn von hinten aufrollend zu überarbeiten, sondern ließ den Anfang wie er war, bevor der Text seine Eigendynamik bekam. Über das Wiedersehen und eine Erkenntnis, die sich daran anschließt, dann später.
Der Bus holperte über Land. Ich sah aus dem Fenster und versuchte mich zu erinnern. Hier war ich einst unterwegs gewesen, kannte die Dörfer und ihre Straßen, aber in der Erinnerung war alles dichter beieinander. In der Realität des sonnigen Nachmittags entrollten sich die Wegstrecken und beanspruchten ihre tatsächliche Länge. Dann bog der Bus ins Dorfzentrum ein, und ich musste aussteigen. Ich hatte noch ein Stück zu laufen bis zum Institut im Nachbardorf. Zuerst galt es eine Bahnlinie zu überqueren, deren Schranken für immer senkrecht gestellt waren. Ihre rotweiß gestreiften Stangen bildeten einen hübschen Kontrast zum Grün des Buschwerks, das dabei war, den Gleiskörper zu überwuchern. Die Straße führte steil hinab. Ich wusste, dass im Talgrund unten scheinheilig brav ein Bächlein plätscherte, das mit seinem unentwegten Fließen über Jahrtausende das Tal geformt hatte. Auch an seinem Hang entrollte sich mir der Weg, wand sich um Kurven und wollte kein Ende nehmen. Hübsche Einfamilienhäuser entlang der Straße zeigten, dass man sich mit der Steilheit des Wegs arrangiert hatte. Eine wirklich dicke Frau inmitten ihres Gemüsegartens grub mit einer Hacke Kartoffeln aus. Schaudernd betrachtete ich das hochgereckte Hinterteil in der ausgebeulten grauen Jogginghose, bis die Frau sich aufrichtete, ihre Stirn wischte und sich nach mir umsah, als wären meine abfälligen Gedanken wie Hiebe auf Ihr Gesäß niedergegangen.
Wenn mich da andere Einwohner wahrnahmen, dann blieben sie versteckt hinter den Gardinen ihrer Fenster. Ich bemühte mich um einen beschwingten Schritt, wunderte mich aber, dass ich trotzdem den Talgrund nicht erreichte. Wüsste ich nicht von seiner Existenz, würde ich mich nicht erinnern an die Mauer aus Bruchsteinen, die den Bach flankiert, ich würde fürchten, vor Einbruch der Dunkelheit nicht unten anzukommen. Eine Weile gruselte ich mich bei der Vorstellung, es würde immer tiefer und tiefer hinabgehen. Der Talgrund wäre im Hellen nicht mehr zu erreichen. Ab und zu kämen von unten Autos herauf. Sie würden hupend an mir vorbeifahren, und ihre Insassen würden abwehrend winken, so als wollten sie mich warnen. Weiß Gott, dachte ich, diese Winkerei schafft mich. Würde doch ein Auto mal anhalten, und der Fahrer sich erklären. Da! Einer drosselt sein Tempo. Wie er auf meiner Höhe ist, ruft er durch die geschlossene Scheibe auf der Beifahrerseite: „Darf nicht halten! Kehrsachen!“
„Kehrsachen?!“
„Kehrtmachen! Umkehren!“
„Wieso?!“
Die Antwort kann ich nicht mehr hören, weil ihn der schwere Wagen vorwärts reißt. Ich drehe mich um und schaue dem Auto hinterher bis die Rückleuchten hinter einer Kurve verschwinden. Erstaunt nehme ich wahr, dass inzwischen die Dämmerung herabgesunken ist. Natürlich! In Tälern geschieht das früher als auf den Höhen! Im Dämmer wirken die Häuser an der Straße schäbig. Nein, sie wirken nicht so, sie sind schäbig, neigen sich windschief der Steigung zu. Durch eines geht ein Riss vom Dach bis zum Gehsteig. Der hintere Teil des Hauses hat die Neigung nicht mitgemacht. Ich kann durch den klaffenden Riss in eine Wohnküche sehen. Drei Teller auf einem Tisch. Eine hübsche Frau steht schräg zu mir hantierend am Herd und schaut über ihre Schulter zurück mir direkt in die Augen. Aus drei Töpfen brodelt und zischt es. Sie hebt die Deckel an und ruft: „Komm rein und iss mit uns! Ich habe hier Kartoffeln, Gemüse und Schweinebraten. Das ist so lecker, da könnt‘ ich mich reinsetzen!“
„Na, wenn schon!“, murmele ich und will mich vorbei stehlen, gehe einen Schritt, nein, ich stolpere vorwärts, denn die Steilheit hat plötzlich zugenommen. Ich rutsche weg und lande unsanft auf dem Hintern. Gerade kann ich noch ein paar rote Stockrosen erwischen, die sich aus einer Bodenritze erheben, und mich festhalten. Es kugelt mir fast den Arm aus. Da ist ein Richtungswechsel nötig, weiß ich und kämpfe mich aufwärts. Die Frau sieht mir weinend hinterher. Das tut mir so unendlich leid. Doch ich muss wieder Boden unter die Füße bekommen und will zurück ans Licht.
Huch. ein bisschen gruselig finde ich es immer, wenn augenscheinlich ganz Normales sich ganz allmählich in eine unkontrollierbare Anderswelt verwandelt. Ich hoffe, es klappt mit dem Weg ins Licht.
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Eigentlich ist ja schon das Normale unkontrollierbar. Das herauszuarbeiten genügen wenige Kunstgriffe. Danke für deine Hoffnung. Das Projekt „Zurück ins Licht“ begann schon 2005. Inzwischen hat sich dieses Licht deutlich verändert.
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Wohl wahr, auch die alltägliche Normalität ist eine behagliche Illusion. Die Sonne scheint gerade so schön, dass ich beschließe, dieser Illusion spazierend nachzugehen.
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Das schöne Spazieren gehört zu einer so stabilen Normalität, dass ich Lust bekomme, es dir gleich zu tun.
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Im wahrsten Sinne des Wortes „entglitten“.
Ich wünsche dir von Herzen festen Boden unter den Füßen. Manchmal eignen sich Buchstaben dafür ganz gut, manchmal auch das Gegenteil.
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Treffend gesagt. Danke für deinen herzlichen Wunsch. Tatsächlich haben mir zunächst Buchstaben guten Grund gegeben. In deinen Worten: „Buchstaben in der richtigen Reihenfolge.“
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Darauf wollte ich hinaus 🙂
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Ich hoffe, dass du am Ende des Tales wieder nach oben findest. Ein ganz hervorragender Text, es ist immer wieder ein Genuss, auch wenn der Inhalt diesmal nachdenklich stimmt.
Liebe Grüße
Alice
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Danke für dein freundliches Hoffen und das schöne Lob! Mein abschüssiger Lebensweg begann etwa 1998, und die schmerzhafte Wendung kam 2005. Seither gehts mit Unterbrechungen bergauf.
Lieben Gruß,
Jules
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Klingt gut, ich wünsche dir weiterhin ganz viele BergaufWege 🙂
Ganz lieben Gruß
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