Gewiss haben viele über die Hitze des Sommers 2019 geschrieben. Den bündigsten Kommentar habe ich beim Kollegen Manfred Voita gelesen. Er schlägt vor, den Sommer „SÖmmer“ zu nennen – wegen der Schweißperlen auf dem Kopf.
Die bildhafte Verfremdung von Buchstabenformen ist ein beliebtes Sprachspiel. Wir kennen bildhafte Buchstaben schon aus dem Barock, beispielsweise ein Menschenalphabet, mit dem sich sogar trefflich schreiben lässt:


Manfred Voita erinnert in seinem Post an Ferdinand de Saussure, den Ahnvater der modernen Linguistik und dessen Verdikt, dass die Wortgestalt nichts gemeinsam hat mit dem Wortinhalt, sondern dass der Zusammenhang ganz abstrakt ist und auf Vereinbarung beruht. Das Ö in SÖmmer und der Kussmund in „Bonn“ wären für Saussure Beispiele für die Anmaßung der Schrift gegenüber der Sprache. Saussure beklagt die “Tyrannei der Buchstaben”, wenn sich die Form der Schrift bedeutsam in die Sprache einmischt. “Wo ist das Problem?” fragt hingegen der Dekonstruktivist Jacques Derrida in seiner ‘Grammatologie.’ Mit Recht lassen wir uns nicht daran hindern, mit den Buchstabenformen zu spielen:
Mit den Typobildern des US-Grafikdesigners und Schriftgestalters Herb Lubalin lässt sich die ganze Geschichte einer Ehe erzählen, die romantische Vermählung, die innige Schwangerschaft, wo das O in „Mother“ ein &-Zeichen enthält, das wiederum das „Child“ in sich trägt, nachfolgend das Bild einer Familie – und was von der Ehe übrig bleibt, wenn Paare sich entfremdet haben und ein Partner sich abwendet. Die Idee für das Ehe-Bild stammt nicht von Herb Lubalin, sondern von einem unbekannten Erfinder, scheint mir aber eine passende Ergänzung zu sein, weil es oft so kommt.
Weitere Beispiele der sogenannten Mehrfachkodierung (ein Inhalt wird sprachlich abstrakt und gleichzeitig bildhaft vermittelt (nicht von mir erdacht, aber von mir gezeichnet)), wobei „Revolver“ nicht als logische Folge des Ehedebakels gemeint ist:
(Heute im TV gesehen und nachgebaut)
Falls sich jemand durch die Beispiele zu eigenen Erfindungen angeregt fühlt, ich würde mich freuen, sie zu sehen.
WENN der Revolver die logische Folge von ɘhe wäre, was macht dann der Ölstamd da? 😉
Danke für die Anregung, ich schau mal was mir heute vllt über den Weg läuft…
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Dass sich der ɘhemann vllt nur noch für sein Auto interessiert?
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Ich habe heute direkt auch etwas gesehen. Daraus ergibt sich zwar kein Sinn aber es sieht schön aus: https://castorpblog.files.wordpress.com/2019/08/screenshot_2019-08-13-11-07-20-227_com7883769107571575373.png
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Danke für das Foto. Du meinst die Farbgebung und den gespiegelten Schattenwurf?
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Ja, genau, ich mag auch Spielereien mit der Schrift, das reizt mich irgendwie, wenn ich genau genommen keinen echten Sinn darin erkennen kann. Abgesehen von dem genialen Ehe Beispiel.
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Spielen ist Sinn ohne Zweck. Du kennst sicher Hugo Balls typografisches Gedicht: Karawane, wo die unterschiedlichen Schrifttypen das Stimmengewirr fremder Sprachen anzeigen.

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Nein das kannte ich noch nicht, danke.
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Der Kussmund ist bekannt und geläufig und doch gefällt er mir immer noch als Buchstaben Ersatz. Wirklich klasse finde ich die Beispiele rund um die Familie. Am besten die „Familie“ selbst.
Und den Revolver, lieber Jules.
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Ich habe mich gefreut herauszufinden, wer den inzwischen geläufigen Kussmund erdacht hat. Ja, Herb Lubalin war ein genialer Schriftgestalter, auch die Adidas-Schrift Avant Garde stammt von ihm. Wer das Revolver-typo erfunden hat, weiß ich leider nicht, liebe Mitzi.
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Ach so…da hab ich ungenau gelesen. Ich hätte das Revolvertypo dir zugeschrieben, lieber Jules. Keine Ahnung warum, aber ich dachte das wäre von dir. Liebe Grüße
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Ich habs nur gezeichnet. Lieben Gruß und schönen Abend!
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Das gelockte O ist wohl Absicht, wird aber deutlich durch die Parallele zwischen der dänischen Stadt Løkken und den deutschen (Haar)Locken übertroffen. Sorry für die schlechte Bildqualität 😦
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Dankeschön für das hübsche Beispiel. Möglicherweise gehört das O zum normalen Typenvorrat der Schrift. Dann ist die Schrifttype wohl gut gewählt.
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Vielleicht hat der Typograf seine Zielgruppe seeehr exakt definiert 😉
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Oder er war selbst Friseur.
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Es gibt auch umgekehrt eine Tyrannei der Sprache gegenüber der Schrift. Guck dir mal an, wie Erstklässler heute schreiben lernen: „Anlauttabelle“ und „Tinto“-Übungsheft.
Die Kinder sollen so schreiben, wie es klingt. Heraus kommen Wortgebilde wie „Farat“, „Intjana“, „Lüfe“ (gemeint ist Löwe🙂) oder „Tsedeblär“ (CD-Player).
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Das ist in der Tat eine Tyrannei der Sprache gegenüber der Schrift. Weil nach Saussure die Schrift jedoch nur ein sekundäres Zeichensystem ist, finden Linguisten nichts dabei. Das von dir skizzierte Schreiben nach Gehör lehne ich ab, weil sich zuerst falsche Schreibweisen verfestigen, die dann wieder verlernt werden müssen.
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Meine Rede😀 Glücklicherweise hat die Schule meiner Tochter wenigstens teils/teils gemacht, also teils auch mit Fibel.
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