Weh! Unser schönes Leinau macht zu

Zum offenen Fenster weht das Sonntagsgeläut der Bethlehemkirche herein. Ein kühler Wind bauscht die lange weiße Gardine. Ich liege auf dem Bett, schaue von unten durch die gelichtete Krone der mächtigen Eiche in den blauen Himmel und bin in Gedanken noch beim gestrigen Abend.

Der gleiche freundliche Wind weht da von Norden her, hat sich im Leinetal abgekühlt und streicht jetzt als angenehme Sommerbrise am Leinau3 vorbei der nahen Limmerstraße zu. Eine Polizeistreife taucht plötzlich auf, vermutlich von Nachbarn herbei gepfiffen, und weist zwei Straßenmusiker zurecht, die gerade erst ihr hübsches Spiel begonnen haben, sie müssten ihren Verstärker der „Partymeile“ zuwenden, womit die Limmerstraße quasi amtlich getauft ist. Die Wirtin des Leinau3 räumt den Musikern einen Platz direkt hinter unserem Tisch frei, wo die beiden dann ungestört aufspielen können.

Der Sinn der Platzveränderung erschließt sich mir nicht. Die lebhafte Unterhaltung an den Tischen verebbt, doch wir werden durch wundersame Klänge entschädigt. Ein Gitarrist und eine Geigerin spielen harmonisch zur gut besuchten Abschlussparty des Leinau3 auf. Erneut verliert das HaCK eine Stammkneipe, denn das Leinau3 schließt.

Diesmal ist es emotionaler für mich als damals beim Vogelfrei. An manchen guten Tagen wurde ich von Bahar, der Leinau-Wirtin, mit einer Umarmung begrüßt. Das geschieht auch heute an unserem letzten Tag. Wir sind hier von ihr und ihren Kellnerinnen immer bevorzugt bedient worden, wenn wir zu siebt oder acht in geselliger Runde saßen und manchen Elferkranz Kölsch geleert haben. Freilich bin ich heute gänzlich unvorbereitet, habe nicht mal etwas zu schreiben bei mir, kein Smartphone, keinen Fotoapparat, um den letzten Abend vor dem Leinau3 zu dokumentieren.
Allerdings mag ich mich immer seltener einreihen, bei der teilnahmslosen Smartphone-Knipserei. Als letztens bei einer Tour-de-France-Etappe der Fahrer Geraint Thomas in einer Kurve stürzte, war eine Frau im Kleid zu sehen, die zunächst Anstalten machte zu helfen, dann aber am ausgestreckten Arm ihr Smartphone hinhielt, um den Mann am Boden zu knipsen. Wozu ist das gut? Die lieblosen technischen Bilder können die Momente nicht am Verschwinden hindern. All die im Bild festgehaltenen Augenblicke, und die Welt dreht sich doch weiter. Alleweil ändert sich was. Zwei HaCK-Gründer verlassen Hannover, das Leinau3 schließt; was bleibt, das als Erzählanlass zu nehmen und passende Worte zu finden. Ich habe nicht mal etwas zu schreiben bei mir. Auf meine Bitte bringt mir Kellnerin Jessie Blöckchen und Stift, das Blöckchen könne ich behalten, den Stift nicht. So kann ich mit dem Gitarristen wenigstens die Internetadresse austauschen. Ich habe hingeschrieben, um den Namen der Geigerin zu erfragen, doch zeitnah keine Antwort, also bleiben beide ungenannt.

Ein schönes Bild hatte ich eine Weile vor Augen und mag ich in Erinnerung behalten. Der junge Sänger mit Gitarre, groß und stattlich, wurde begleitet von einer kleinen asiatisch wirkenden Frau mit Geige. Nie zuvor hatte ich die unterschiedlichen Bewegungsabläufe bei Gitarre und Violine so deutlich vor mir, und es machte mir klar, dass die Wahl eines Instruments auch von den Temperamenten bestimmt ist. Während er aufrecht und locker hinter dem Mikrophon stand und die Gitarre mit relativ sparsamen Bewegungen der Hände spielte, war sie ständig in anmutig fließender Bewegung, einmal indem sie mit dem Geigenbogen die Saiten strich oder im aufgeregten Fizzicato zupfte, aber anderes schien mir nicht vom Instrumentenspiel gefordert zu sein, sondern war Einfühlung in die Melodie und bewegter Widerhall von Emotion, ein fast tänzerischer Ausdruck der Töne. Begleitend bauschte und zerrte der Wind übermütig ihre kurze Bluse, und so schien sie wie ein Schmetterling den Sänger zu umschwirren. Wer wollte bei dieser musikalischen Ästhetik nach der Polizei rufen? Trotzdem gingen die Blicke der beiden nach jedem Lied besorgt zur Hausfassade gegenüber.

Als sie aufgehört haben, gehe ich hinein, um zu bezahlen, eine geringe Zeche, denn alles ist heute 30 Prozent günstiger. „Vielleicht sehen wir uns ja nochmal“, sagt Jessie zum Abschied. Ein schwacher Trost, denn weh! Unser schönes Leinau macht zu! Wir waren so gerne dort.

Das Lied des Abends:

6 Kommentare zu “Weh! Unser schönes Leinau macht zu

  1. Sei doch nicht so streng mit den Fotografen. Ich war immer ein erbärmlicher Knipser, bis die Technik der digitalen Kameras oder Smartphones das Verwackeln fast unmöglich machte. Mir geht es jetzt so, dass ich einfach mehr sehe, weil ich einen Blick für interessante Motive entwickelt habe. Es ist ähnlich wie bei Texten, man wird einfach aufmerksamer. Klar, Menschen fotografieren Unfälle und stehen Rettern im Weg, um kein Detail zu verspassen. Offenbar tickt die Menschheit so. Sicher hat die ständige Verfügbarkeit des Handys dazu beigetragen, dass jetzt jeder nicht nur gaffen, sondern seine Eindrücke auch noch teilen muss. Wir kriegen offenbar jedes Medium auf das erbärmlichste Niveau herunter. Zum Glück gibt es aber immer noch das eine Bild, den einen Text, den Moment, der uns berührt. Dafür schreiben wir, dafür fotografieren manche.
    Du hast dem letzten Abend in der Kneipe ein kleines Denkmal gesetzt, mit Wind und Bier und Musik, mit Herzlichkeit und Wehmut. Danke.

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  2. Traurig ist es und ein Verlust, lieber Jules. Neues kommt fast immer. Aber man kann sich selten sicher sein, ob es wieder so schön wird. Ein wenig Trauer ist also angebracht.
    Nicht aber für fehlende Kamera oder Smartphone Fotos. Du hast die Erinnerung an den letzten Abend hier und in Worten konserviert. Das scheint mir schöner.

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    • Danke für den Mitgefühl, liebe MItzi. Ja, Neues kommt immer, aber manchmal dürfte ruhig alles so bleiben, wenns grad gut ist. Du kennst das auch, beim Aufschreiben ist die innere Beteiligung größer als bei einigen rasch geknippsten Bildern. Doch hatte ich die Kamera nicht bewusst zu Hause gelassen, hatte einfach nicht daran gedacht.

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  3. Pingback: Junggesellenabschied auf Pangea

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