Als ich im Bad Licht machte, flatterte aus einer Ecke ein Nachtfalter auf. Flatterte ziellos herum und suchte nach einem Versteck. Nicht zehn Sekunden blieb er irgendwo sitzen. Vielleicht konnte er sich in der plötzlichen Helle schlecht orientieren. Jedenfalls setzte er sich bald auf einen für ihn ungeeigneten Platz, nämlich auf die weißen Kacheln links neben meinem Badspiegel. Da wollte ich ihn schon aus ästhetischen Gründen nicht lassen. Abgesehen davon ist ein Insekt, das jede Sekunde orientierungslos herumflattern kann, kein angenehmer Gast im Bad.
Ich nahm ein Glas und stülpte es über ihn. Natürlich verstand er meine durchaus guten Absichten nicht und flatterte wie wild in seinem engen Glaskäfig umher. Ich musste ihn wieder freilassen, weil ich keine Abdeckung für das Glas in Reichweite hatte. Das war mir vorher klar gewesen, aber ich war fast so planlos wie der Nachtfalter auf meinen Kacheln an die Sache rangegangen. Im Küchenregal fand ich die Anleitung für einen Radiowecker und während ich den Falter wieder einfing, der erneut völlig blöd auf meinen Kacheln gesessen hatte, wunderte ich mich darüber, dass ich die Anleitung aufbewahrt hatte. Den Radiowecker habe ich nämlich längst entsorgt, weil er defekt gewesen ist.
Ich deckelte das Glas, der Falter beruhigte sich, und ich trug ihn zum Fenster, wo ich ihn in die Freiheit entließ. Ich hatte das Glas schütteln müssen, damit er hinausfand. Dann aber segelte er in hohem Bogen davon. Als wäre er schon oft aus einem Glas in den hellen Tag hinausgeschüttelt worden, führten ihn jetzt wieder seine Instinkte. Die Kommandozentrale wurde wieder von Fachpersonal besetzt, das genau wusste, was jetzt zu tun ist. Vorher hatte wohl große Verwirrung geherrscht. Alle waren durcheinander gelaufen und hatten Unsinn gerufen. Mal übernahm dieser das Steuer, mal jener, mal rief einer: „Was zum Teufel soll die Anleitung für einen Radiowecker?!“
Will sagen: Wir wissen nicht, wie so ein Nachtfalter eine Situation wahrnimmt, die in seinem Plan nicht vorgesehen ist. Vermutlich spürt er nur die Gefahr für sein kleines Leben. Alles andere ist ihm wumpe. Heute Nacht wird er tollkühn und bedenkenlos erneut durchs offene Küchenfenster meine Küchenlampe ansteuern und sich eventuell ins Bad verirren, wo ich ihn morgens fange, und er wird keine Ahnung haben, dass ihm gestern das Gleiche passiert ist.
Der Mensch ordnet seine Welt durch Erinnerung. Was uns umgibt, ist mit Bedeutung aufgeladen, die aus der Vergangenheit kommt. Das ist nicht nur mit den Wörtern so, in denen einer denkt. Die Anleitung erinnert mich an den Radiowecker. Der, obwohl nicht mehr da, erinnert mich an eine verflossene Beziehung zu einer Frau in München. Ich hatte ihr den Wecker geschenkt, weil sie sich immer vom Mobiltelefon hatte wecken lassen, das zu diesem Zweck eingeschaltet neben ihrem Kopf gelegen. Dann hatte sie mir den Wecker als defekt gemeldet, und ich hatte ihn wieder mit nach Hannover genommen, um ihn umzutauschen, fand aber die Quittung nicht mehr. Das Radio funktionierte noch und diente mir eine Weile als Küchenradio, bis es ebenfalls muckte. Da war ich froh einen Grund zu haben, es wegzuwerfen.
Der Falter hat das alles wieder an die Oberfläche gebracht, und falls ich am Morgen nicht gewusst hab, wer ich bin, die Radioweckerbedienungsanleitung hat mich wieder in der Welt verortet. Unklar ist freilich, ob der Mensch, indem er in der Vergangenheit lebt und seine Illusion der Gegenwart aus den Erinnerungen formt, mehr von der physikalischen Realität versteht als der Nachtfalter.
Da frag ich mich, wer es letzen Endes besser hat. Dem Nachtfalter sind sind immer alle Enden offen. Wir begrenzen uns selbst mit unseren Erfahrungen und dümpfen unser Leben in immerwährenden Schleifen aus Nostalgie, Angst und ein bisschen Hoffnung.
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Leider haben wir keine Wahl. Aber innerhalb des Menschseins habe wir einige Freiheit. Wir können rein instinktgesteuert handeln, aber auch nachdenken und vernunftsgesteuert. Aus Erfahrung können wir lernen, zudem Kunst, Musik, Literatur, Poesie schaffen. Nachtfalter schreiben keine Gedichte 😉 Und das „bisschen Hoffnung“ würde ich auch nicht unterschätzen.
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Stimmt, reine Triebsteuerung ist sicher nicht erfüllend.
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Lieber Jules, danke für diesen nachdenklichen Text, der doch schmunzeln lässt.
Oft genug fühle ich mich wie der Nachtfalter, z. B. wenn ich wieder in eine depressive Anwandlung hinein geschlittert bin und nicht weiß wie und warum. Dann bin ich sehr dankbar für jemanden der mich rausträgt.
Ganz liebe Grüße und einen schönen Tag dir! Anna
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In Aachen ging es mir eine Zeit nicht gut. Da erwischte ich mich immer wieder dabei, dass ich in die Küche ging und seufzte. Ich nannte sie bald meine Seufzerecke. Wann immer wir etwas tun und nicht wissen warum, sind wir vermutlich dem Naturzustand nah. Das Tier in uns handelt. Vielleicht entsteht manch unglücklicher Gemütszustand aus einer Dissonanz zwischem dem Tier in uns und dem reflektierenden, dem Naturzustand entfremdeten Menschen.
Danke für deinen Kommentar, der mich denken ließ, und sei herzlich gegrüßt, liebe Anna!
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Ich überlege gerade, ob die bewusste Annäherung an den – wie du ihn nennst – Naturzustand dann auch heilsam sein kann. Und wenn ja, warum nutzen wir das dann nicht mehr?
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Ich fürchte, der (berufliche) Alltag fordert zu oft, gegen die eigene Natur zu handeln. Seit ich nur noch selbstbestimmt handeln kann, habe ich meine Seelenruhe zurück.
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„in der Vergangenheit lebt“ schreibst du. Leben wir nicht immer im „jetzt“, mit dem Kopf voller Vergangenheit und Zukunft?
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Ich halte Gegenwart, dieses „Jetzt“ ja für eine sprachliche Illusion, wie im Gespräch mit Coster zum Ausdruck kommt.
https://trittenheim.wordpress.com/2016/10/06/ploetzlich-ploetzlich-ueber-die-illusion-der-gegenwart/
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Ein schöner Text, lieber Jules. Was so ein Falter für Gedanken hervorbringt und welch vielfältige Erinnerungen an einem Stück Papier hängen.
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