„Ein Ausmaß von Geschwätzigkeit, offenbar in der Hoffnung verfasst, erst gar nicht gelesen zu werden“, hat Wolf Schneider, Stilpapst des Journalismus, vor Jahren in Blogs gefunden. Der selbsternannte Internetexperte Andrew Keen tönte in einem Buch vom „Zeitalter der schreibenden Affen“, Bernd Graff, leitender Kulturredakteur der Süddeutschen Zeitung und 2010 mitverantwortlich für den Internetauftritt der SZ, sah das Internet „in der Hand von Idiotae“, eine erstaunliche Selbstauskunft. Natürlich meinte er nicht sich, sondern jene „halbgebildeten Laien“, die „aus Idealismus“ oder „weil sie sonst keine Beschäftigung haben – eine Rolle in der allgemeinen Informationsbildung übernehmen wollen“, und Gregor Dotzauer dünkelt im Tagesspiegel unter dem Titel „Graswurzelverwilderung“ von der bloggenden „Gewaltwillkür (…) pseudonymer Existenzen“, die aus purer Selbstherrlichkeit einen „Kulturkampf“ angezettelt hätten.
Inzwischen hat sich die Kritik auf die „pseudonymen Existenzen“ des Mikroblogging wie Facebook, Instagram und Twitter verlagert. Medial sind Blogs in der Bedeutungslosigkeit versunken. Als wechselseitiges Medium haben Blogs nur eine beschränkte Reichweite und sind keine ernsthafte Konkurrenz für den bezahlten Journalismus. Der „Kulturkampf“ tobt woanders. Der YouTuber Rezo hatte der CDU mit seinem Zerstörungsvideo den Kampf angesagt, und allen voran sprang FAZ-Innenpolitikchef Jasper von Altenbockum übers hingehaltene Stöckchen. Mit dem gleichen törichten Furor (Teestübchen berichtete) wie einst Graff und Dotzauer drehte er seine Zeitung zur Klatsche und schlug zunächst auf die Rezipienten des Videos ein („Jeder Klick ein Armutszeugnis“), dann auf den jungen Mann, denn Rezo kann vor allem eines vorweisen: Reichweite. Von den inzwischen 15,1 Millionen Aufrufen seines Videos kann ein FAZ-Redakteur nur träumen. Die verkaufte Auflage der FAZ liegt bei 230.000 Exemplaren. Selbst bei großzügiger Schätzung der Mehrfachnutzung eines Exemplars wird die Millionengrenze kaum erreicht. Etwa 60 Prozent der Leserinnen/Leser interessieren sich laut Bundesverband deutscher Zeitungsverleger (BDZV) für Innenpolitik, wobei von Altenbockum nicht einmal davon ausgehen kann, dass sie seinen von Polemik triefenden Sermon überhaupt lesen mögen. Auf Twitter entspann sich kürzlich ein „Beef“ zwischen von Altenbockum und Rezo. Inzwischen hat der Medienjournalist Stefan Niggemeier von Altenbockums irrwitzigen „Kulturkampf“ dokumentiert und seine Falschbehauptungen sowie die schwachbrüstige Argumentation zerpflückt.

Jasper von Altenbockum, mentally sitting behind the linotype setting machine (symbol image) Gestaltung: JvdL
Kurz vor seinem Tod im Jahr 1991 hat der Medienphilosoph Vilém Flusser das Ende der Schriftkultur vorausgesagt. Obwohl das Internet noch in den Anfängen steckte, von YouTube, Instagram, Snapchat und den alles bestimmenden Algorithmen noch nichts zu sehen war, prophezeite Flusser, die Schrift werde von Bild und Zahl in die Zange genommen und an Bedeutung verlieren. Letztlich hat die Auseinandersetzung um das Rezo-Video nicht nur die gesellschaftspolitische Dimension, sondern zeigt auch das Ragnarök der Schriftkultur. Nur die tragischen Helden im nicht zu gewinnenden Kampf hätte man sich nicht unbedingt vorgestellt als geifernde alte Männer vom Schlage Jasper von Altenbockum.
Tja, das kommt davon, wenn man dem Pöbel erlaubt, sich so einfach den Zugang zur Kunst des Lesens und des Schreibens zu verschaffen.
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Man möchte lieber, dass der Pöbel vorm Fernseher hockt, sich im Privatfernsehen Dreck reinzieht und sich im Öffentlich-rechtlichen durch komplett sinnlose Quizshows das Hirn zerfasern lässt.
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Und allmorgendlich ein laues Bad in der Zeitung. „Ein Träumchen“ (Horst Lichter).
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Den Kai würde das nicht pflaumen…
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Du spielst auf „Wer weiß denn sowas?“ an. Das ist so ziemlich der Tiefpunkt der dummen Fragerei, aber die anderen sind auch nicht besser
https://trittenheim.wordpress.com/2018/03/01/shakespeare-ben-und-gott-ein-treffen-grosser-geister/
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Ein Armutszeugnis waren eher die Reaktionen seitens diverser Politiker. Im Urlaub war ich abgetaucht, aber ich merkte, dass es immer noch Thema ist. Gut so.
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Willkommen zurück. Schlimmer, weil politische Macht dahinter. Über Kramp-Karrenbauers Zensurideen habe ich mich ja schon geäußert, aber was einige CDU-Politiker getwittert haben, ist schändlich. Man mag es gar nicht lesen.
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Ich behandle das Thema gerade im Unterricht als jugendliche Antwort auf erwachsenen Lobbyismus. Wobei zu betonen ist, dass beim Video kein kommerzielles Interesse dahinter steckt. Herrlich, jahrelang mussten wir Lehrer die Schüler mit der Politikverdrossenheit der Jugend konfrontieren und jetzt interessieren sie sich plötzlich so wie sie es für richtig halten 😊
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Das kommerzielle Interesse wurde Rezo ja unterstellt – von Journalisten, die auch nicht für Umsonstzeitungen arbeiten. Ich kann mir gut vorstellen, dass es Freude macht, über die jüngste politische Mobilisierung junger Menschen durch Fridays For Future und die Auseinandsersetzung um Rezos Video zu sprechen.
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Was mir auch gefällt ist, wie Rezo alle möglichen Angriffe v.a. von Seiten der CDU ziemlich souverän kontert. Springt über kein Stöckchen, lässt sich von Nebelgranaten nicht verwirren oder zu Überreaktionen verleiten. Da hat einer seine Hausaufgaben gemacht und kann „neue Medien“. Das ist kein dummer Junge, der mal zufällig über ein heißes Thema gestolpert ist. Ich hoffe, von der Sorte gibt es noch mehr!
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Kürzlich war er in Bömermanns „Neo Magazin royal“ zu sehen. Da war zu erkennen, dass ihm der Hype schon ein bisschen viel geworden ist. Klug auch, Einladungen nach Berlin nicht befolgt zu haben und die Einstellung, die können ja zu mir kommen, wenn sie was wollen.
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Außerdem hatte er ja von Anfang an zurecht gesagt, dass es nicht darauf ankommt, mit ihm in Dialog zu treten, sondern die von ihm auf den Tisch gebrachten Themen mit entsprechend qualifizierten Fachleuten zu verhandeln und in vernünftige, zielführende Politik umzusetzen. Von ihm da jetzt noch große inhaltliche Mitwirkung zu verlangen ist, als ob ich, wenn ich einen Unfall beobachte und den Notarzt rufe, dann mit dem Notarzt zusammen die Behandlung erarbeiten soll – völlig unsinnig.
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