Ferne Rufe (5) – Information und Telekinese

„Alle Information ist schon immer in der Welt.“ Dieses Wort der Alten leuchtet mir unmittelbar ein. Als ich für unseren ersten Homecomputer, einen Atari XL, Spiele programmierte, war das größte Problem der viel zu kleine Arbeitsspeicher, weshalb die Programme mit zunehmender Länge immer langsamer abgearbeitet wurden. Deshalb habe ich so sparsam wie möglich programmiert und alles Überflüssige vermieden. Bei der Suche nach Verkürzung ist mir aufgefallen, dass viele Programmteile redundant waren, weil die Informationen längst da waren. Einfaches Beispiel: Die Daten für die Pixelgrafik eines Gesichtes konnten auf eine Gesichtshälfte reduziert werden. Für die andere Hälfte spiegelte ich die vorliegenden Daten. Selbstverständlich hat ein reales menschliches Gesicht nicht exakt zwei gleiche Hälften, wie die Erscheinungen des Lebens viel komplexer sind als Computerprogramme oder -bilder.

Die Blätter der Bäume hier im Park sind in ihrer Individualität vorhanden. Doch sie müssen nicht einzeln wahrgenommen werden. Es reicht der Gesamteindruck. Wenn die Maler des Barocks eine Szene wie diese malen wollten, also das Barockschloss, vor dessen Grundmauern und steinernen Balustrade ich sitze, dann malten sie bei den Bäumen nicht jedes einzelne Blatt. Akademisch ausgebildete Maler beherrschten den sogenannten Eichenschlag, den Buchenschlag, also eine besondere Art der raschen Pinselführung, mit der die typischen Blätter simuliert wurden. Sprachliche Filter sind noch radikaler, reduzieren die Fülle der einzelnen Blätter auf ein einziges Wort: „Blattwerk“ oder „Belaubung“ und vermitteln die Vorstellung von der Gesamtheit der Blätter eines Baums. Der Informationsgehalt der Welt lässt sich nur fassen, wenn wir ausdünnen oder reduzieren.

Mein Blick geht über die Baumkronen hinweg in den makellos blauen Himmel. Kein Wölkchen stört, Chemtrails hat man schon lange nicht mehr gesehen. Ob man je wieder fliegen wird? Nicht dass es mir wichtig wäre. Ich bin nur geflogen, wenn ich mit dem Fahrrad stürzte.

Es ist heute etwas in der Luft, was meine Gefühle vertieft. Besonders die Geräusche dieses Tages rufen vielfältige, jedoch vage Erinnerungen in mir wach. Es ist ein wenig beunruhigend, weil es scheint, als könnten diese Erinnerungen mich packen und schwermütig machen.

Ich werde in die Vergangenheit gesogen und liege auf der Pritsche zur Ultraschalluntersuchung. Der seitlich von mir sitzende Arzt fährt mit der Ultraschallsonde über meine Brust. Ich kann mein pochendes Herz und die umliegenden Gefäße auf dem Monitor sehen. Plötzlich packt mich der Schmerz in der Brust, den ich ihr zuschreibe. Ich deute auf die Stelle: „Können Sie mal nachsehen, was da ist?“
Der Internist führt die Sonde oberhalb meiner linken Brust hin und her. Wir sehen einen offenen Kanal, durch den Blut pumpt..
„Ich habe da oft Schmerzen“, sage ich, „zur Zeit auch.“
„Es ist nichts Abnormales zu sehen“, sagt er, nimmt sich die Stelle noch ein wenig genauer vor, bleibt aber bei seinem Befund. Ich bin beunruhigt und getröstet zugleich. Die Schmerzen sind ja im Laufe der Monate gewandert, nein eigentlich haben sie sich stärker konzentriert. Anfangs war es ein wehes Gefühl auf der linken Seite gewesen. Es war, als hätte sie ihre telekinetische Gabe an mir trainiert. Der Schmerz ist nun eindeutig stärker, da er sich auf einen Punkt konzentriert. Es gibt Situationen, da zwackt sie mich regelrecht. Ich sitze beispielsweise lesend in meiner Wohnung und erwarte sie, die irgendwann in der nächsten Stunde kommen würde. Plötzlich zwackt es, und indem ich meine linke Brust reibe, höre ich ihr Auto vorfahren. Da sie nun also offenbar fester zupacken kann, hatte ich befürchtet, die Stelle könnte vielleicht irgendwann einmal wund werden oder wirklichen Schaden nehmen. Diese Sorge hat der Internist mir jetzt genommen. Andererseits muss ich endlich zugeben, dass die Frau, die ich liebe, etwas Telekinetisches mit mir anstellen kann.

„Glauben Sie, dass ich einen Knall habe?“ frage ich den Arzt, nachdem ich geschildert habe, was sie mit mir tut.
„Ich bin lange in Indien und Afrika gewesen und habe einiges gesehen, was die Schulmedizin nicht erklären kann“, sagt er. „Und in der Sprache kommt es ebenfalls vor. Warum sonst sprechen wir von Herzeleid und Herzschmerz?“

Fortsetzung

4 Kommentare zu “Ferne Rufe (5) – Information und Telekinese

  1. Pingback: Ferne Rufe (4) – Keine Zeit

  2. Pingback: Ferne Rufe (6) – Schmerzende Flieger

    • Du hast Recht. In unserer Kultur herrscht ein mechanistisches Verständnis, was sich auch in Selbstaussagen festmachen lässt, wenn es heißt: „Ich musss Gas geben!“ und dergl. Auch die synonyme Verwendung „Pumpe“ für Herz drückt das aus.

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