In der 8. Klasse, wo ich auf Wunsch der Schülerinnen/Schüler Kalligraphie unterrichte, frage ich gegen Ende der Stunde: „Wer glaubt von sich, eine schlechte Handschrift zu haben?“ Einge melden sich zaghaft, Ich sage: „Dann kommt mal bitte und schreibt mir „Kakographie“ [Übelschreibung] auf’s Blatt, so hässlich ihr könnt!“
Innerhalb kürzester Zeit umringt die halbe Klasse mein Pult und drängelt sich, Kakographie zu schreiben.
„Darf ich mal?“
„Jetzt bin ich dran!“
Ein zweites Blatt wird von einem Schüler begonnen, der vorne beim Pult sitzt, und im Nu ist auch das voll, und noch immer drängeln welche, „Kakographie“ zu schreiben, manche zum 3. und 4. Mal. Sogar das Pausenklingeln wird ignoriert. Ich hätte glatt eine Gebühr erheben können.
„Viel zu schön!“, kritisiere ich, „da sieht man zu viele Elemente der Geläufigkeit. Versucht es mal mit Links!“ Hannah, die Linkshänderin, schreibt dann Kakographie ungelenk mit Rechts. Das ist für mich Rechtshänder seltsam anzusehen.
Erkenntnis: Absichtlich hässlich zu schreiben, ist gar nicht so einfach.
Das klingt ein bißchen nach der Methode der paradoxen Intervention. Damit arbeite ich auch manchmal. „Wenn sie meinen, dass Ihnen sowieso nichts und niemand helfen kann, dann brauchen wir ja gar nicht über Ihre Probleme sprechen und können uns einfach nett unterhalten.“ Es verwundert Gesprächspartner, wenn sie nicht das zu hören bekommen was sie eigentlich erwarten und kann eine neue Atmosphäre der Offenheit schaffen.
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„Paradoxe Intervention“ scheint zu passen. Nur, dass ich damit kein Kalkül einer Verhaltensänderung verfolgt habe, sondern einfach an Zeugnissen misslungener Handschrift interessiert war. Die Kinder haben das wohl als Akt der Befreiung erlebt. Erst in den 1980-er Jahren wurde in NRW die Handschriftnote abgeschafft.
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Diese ganzen Methoden der Gesprächsführung und Kommunikation müssen zu einem passen und authentisch sein, sonnst könnte man sich ja auch mit einem Computer unterhalten.
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Das meinte ich nicht. Als Lehrer habe ich „Methoden der Gesprächsführung“ gegenüber Schülern möglichst vermieden, weil Grenzen zur Manipulation sonst schnell überschritten sind..
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Ziel dieser Metoden sollte immer die Ermöglichung der Selbstreflexion eines Menschen sein. Im besten Fall eröffnen sich dadurch neue selbstgewählte Möglichkeiten. Manipulation bedeutet eher jemanden in eine Richtung zu Drängen. Wie alle Metoden ordnet sich die Gesprächsführung dem Ziel ihres Anwenders unter und ist erst mal weder gut noch schlecht.
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Verstehe. Die Konstellation Lehrer-Schüler ist ja nie gleichberechtigt. Die Kommunikation ist asymmetrisch. Als Lehrer hat man Machtmittel. Aus diesem Grund bin ich immer zurückhaltend gewesen.
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Sehr symphatisch:-)
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Vielen Dank!
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Damit wir nicht aneinander vorbeireden: Paradoxe Intervention ist ja eine Form des uneigentlichen Redens. Man sagt etwas anderes als man meint. Im Schulischen Alltag ist das eher kontraproduktiv. Wenn Schülerinnen/schüler merken, dass man als Lehrer seine Absichten verschleiert, verlieren sie das Vertrauen. Ich war nicht umsonst 15 Jahre der gewählte Vertrauenslehrer/SV-Lehrer.
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Episoden aus dem Lehrerleben, was für eine hervorragende Idee…Werde mich mal kümmern. Danke. Gruß von Sonja
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Dankeschön! Glücklicherweise habe ich zehn Jahre Tagebuch geführt und manches verzeichnet, was ich sonst längst vergessen hätte. Lieben Gruß!
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Eine tolle neue Reihe, lieber Jules. Hässlich schreiben zu dürfen, scheint ein großer Spaß zu sein.
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Dankeschön, liebe Mitzi. Inzwischen habe ich eine ausreichende Distanz dazu. Zeitweise habe ich selbst ungewollt hässlich geschrieben, dass es kein Spaß ist, das lesen zu wollen.
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Übrigens: Bitte nicht beim ersten Kommentar Werbung machen und zum eigenen Blog verlinken..
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