Die letzte Freinacht (6) – Mareike

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„Mensch Toni, halt‘ die Tür auf!” rufe ich und versuche, die Leiter in die Waagerechte zu bringen. Toni hält halbherzig die Tür, zieht ein wenig an der Leiter, und plötzlich ist er auch weg. Ich murkse mich durch die Türöffnung, gerate in Panik und versuche viel zu früh, nach rechts abzubiegen, so dass sich die Leiter verkantet. Ich hänge fest. Wieder gerade, etwas zurück, dann vorwärts, bis die Leiter ganz draußen ist, das kostet Nerven. Dann endlich kann ich nach rechts abbiegen und um die Ecke flüchten. Wenn der Alte gewollt hätte, hätte er mich dreimal erwischen können.

Hinter der Ecke empfangen die drei mich grinsend.
„Ihr Fackelsnasen!“ sage ich, „lasst mich einfach mit der Leiter allein. Feige Säcke!”
Die Säcke lachen. Toni hilft mir, die Leiter hinzulegen und hochkant abzustellen. Dann setzen wir uns darauf, um eine zu rauchen. Sabines Zimmer ist ja nun leider unentdeckt geblieben. Aber am Ende der Straße, da wohnt Mareike, die liebliche. Bei ihr wollen wir unser Glück noch versuchen.

Der Hof, auf dem Mareikes Familie sitzt, ist einer der größten im Dorf. Ich hatte da früher ein geheimes Hausrecht, von dem seine wahren Herren nichts wissen. Wir Kinder haben oft in der Scheune gespielt und heimlich die vielen Ställe, Schuppen und Speicher des Gehöfts erkundet. Sogar im Haupthaus waren wir unbemerkt. Darin gibt es auf der zweiten Etage eine ausladende Holztreppe, die auf den Speicher führt. Dieses Wunderreich ist durch eine hölzerne Falltür verschlossen, die von einem trickreichen Mechanismus so in der Balance gehalten wird, dass man sie nur antippen muss, und sie schwebt gen Himmel.

Denn betraten wir zaghaft einen sonnendurchfluteten Söller von riesigen Ausmaßen. Neben Truhen und Kisten standen eine Unzahl Möbel da, als habe man ganze Zimmereinrichtungen hier abgestellt. Flüsternd gingen wir herum, legten vorsichtig Hand an alte Mäntel und Hüte, erschraken vor einer häss1ichen Schneiderpuppe, sahen in Kisten und Kästen und immer wieder aus den Dachfenstern, die uns nie zuvor gesehene Ausblicke gewährten. Mareikes Vater aber war der grimmigste Mann der Welt, ein wahrer Kinderfresser, der brüllte uns schon an, wenn er uns von weitem durch seine Hauswiesen streifen sah. Wir schlotterten vor ihm, aber saßen doch auf seinem Söller. Und dann trauten wir uns nicht mehr herunter, denn plötzlich hörten wir aus der Ferne seinen Lanz-Traktor näherkommen, und da fuhr er auch schon bullernd in den Hof ein.

Das ist viele Jahre her. Heute Abend wollen wir zu Mareike. Ihr Zimmer liegt günstig an der Straßenfront, in der ersten Etage, und das Schlafzimmer ihrer Eltern liegt glücklich nach hinten raus. Wir finden das große Haus dunkel und nur eben noch im Bereich einer Straßenlaterne. Neuhaus und Peter legen die Leiter an und halten sie fest.

“Wer geht?” fragt Neuhaus und sieht dabei Toni und mich an. Er weiß, dass wir beide hier Rivalen sind. Ich warte nicht darauf, was Toni antwortet, sondern bin schon auf der Leiter. Toni bleibt still. Wie ich gerade auf halber Höhe bin, öffnet sich oben leise das Fenster und Mareike schaut herunter. Sie wispert: „Bist du verrückt?”, doch sie ist nicht böse mit mir, es ist mehr ein freudiger Willkommensgruß.

„Halt mal die Leiter, Mareike!“ raune ich, denn die schabt, wenn ich weiter steige, so beängstigend auf dem Blaustein der Fensterbank hin und her. Ich höre die Freunde unten leise rufen, als sie Mareike erkennen. Lasst jetzt bloß die Leiter nicht los, gerade wenn ich auf die Fensterbank klettere! Mareike hilft mir hinein, sie ist furchtbar aufgeregt, genauso wie ich es wäre, wenn ich kein Bier intus hätte. Und wie ich im dunklen Zimmer vor ihr stehe, da freuen wir uns wie die Kinder über meine gelungene Kletterpartie. Ich kann kaum was von ihr erkennen, nur dass sie ein helles kurzes Nachthemd trägt. Wir stehen beieinander, und ich will ihr feines schmales Gesicht streicheln, da sehe ich über ihre Schulter hinweg, dass die Zimmertür sich öffnet. Vom Flur her weht ein schwaches Nachtlicht ins Zimmer, kaum genug, die Gestalt in der Tür zu erkennen.

Fortsetzung

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