Gekritzelt – Blind im Kopf

Widerspruch
Es ist nicht meine Art, in Büchern herumzuschmieren, weder in meinen eigenen noch in Leihbüchern, was manche Menschen offenbar bedenkenlos tun. Solchen würde ich jede Schandtat zutrauen und erführe ich von ihrem dunklen Geheimnis, würde ich sie hinfort meiden. In meinem Bücherregal wird man kaum ein Buch mit Unterstreichungen oder Randbemerkungen finden, und doch habe ich kürzlich derlei entdeckt, eine nachlässige Unterstreichung mit Bleistift in einem fast 50 Jahre alten Buch: „ … Verblendung wächst durch Widerspruch.“ Ich muss schon in jungen Jahren die tiefe Einsicht erkannt haben, die in dieser Wendung steckt, und ich merke, dass ich wohl zeitlebens bestrebt war, sie zu beachten. Und habe ich das nicht getan, ist mir die Weisheit schmerzlich um die Ohren geflogen. Demgemäß rät Gracián: „Dem Widersprecher nicht widersprechen.“

Verlockend
Ganz ohne Slogan kommt die Zigarettenwerbung aus, die ich heute auf der Fössestraße fotografiert habe. Sie verspricht keinen Genuss mehr, sondern wirbt sogleich mit dem Schaden. Das erinnert mich daran, was ich über das Berlin der 1920-er Jahre gelesen habe. Da gab es ein Etablissement, in dem man sich gegen Bezahlung schädlicher Strahlung aussetzen konnte. Beides ist ein Appell an das Dumme im Menschen, an Dummheit und latente Todessehnsucht.

Lateinische Ausgangsschrift

Obwohl ich mich lange Zeit mit dem Erlernen verschiedener Handschriften beschäftigt habe und manche Schrift einst geläufig geschrieben habe, verfüge ich noch über meine Kinderschrift. Wie ich heute feststellte, kann ich die Lateinische Ausgangsschrift noch schreiben, wie ich sie als Erstklässler von der Tafel abgeschrieben habe. Das ist um so erstaunlicher, da mir feinmotorische Fähigkeiten mit einem Schlaganfall verloren gegangen sind und ich sie neu trainiert habe. Die Lateinische Ausgangsschrift habe ich derart verinnerlicht, dass sie nicht verloren gegangen ist. Meine Lehrerin, die mich schreiben lehrte, hieß Fräulein Lamboy. Ich wollte es können wie sie und war immerzu unzufrieden, weil mir die Buchstaben nicht gelingen wollten wie ihre Vorlage. Denn ich war verliebt in Fräulein Lamboy. Fräulein Lamboy hatte schöne weiße Hände, anders als die groben Hände der Landfrauen, die niemals richtig sauber wurden. Einmal nahm ich mir die Bürste und scheuerte meine Hände über dem Waschbecken, bis meine Mutter mich fragte, was in mich gefahren sei. Da sagte ich ihr, dass ich so schöne weiße Hände wie Fräulein Lamboy haben wollte. Doch Fräulein Lamboy hatte eine seltsame Krankheit, die sich just an ihren Händen zeigte. Im Laufe des Vormittags verkrampften sich ihre Finger und krümmten sich nach innen. Sie hielt dann die Kreide zwischen den verkrampften Fingern beider Hände. Wenn sie derart mit Kreide und Tafel zu kämpfen hatte, litt ich mit Fräulein Lamboy und hoffte für sie, dass der Unterricht bald endete, damit sie endlich mit dem Fahrrad zum Arzt des Nachbardorfes fahren konnte, der ihr täglich ein entkrampfendes Mittel spritzte. Eventuell haben mir diese starken Gefühlseindrücke die Kinderschrift eingebrannt.

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13 Kommentare zu “Gekritzelt – Blind im Kopf

  1. Mein Motto ist „geschmeidiger Umgang mit Widerstand“. (Hab ich vom motivational interviewing geklaut). Das heißt nicht konfrontativ und besserwisserisch mit Widerständen umgehen, sondern Konsequenzen erklärend und Handlungsoptionen aufzeigend.

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  2. Unsere Grundschullehrerin sagte damals: „Ich werde euch zeigen, wie diese Schrift funktioniert und ihr schreibt die dann so, weil es vorgschrieben ist, euch das so beizubringen. Aber ich bin zu alt, um noch umzulernen und werde meine Schrift weiter benutzen. Ich glaube, sie ist lesbar genug“.
    Und das tat sie dann auch.
    Ach ja, und als der elektrische Strom – wieder einmal – entdeckt wurde, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, da wusste man erstmal nicht allzuviel damit anzufangen. Also erfand man eine Elektrisiermaschine, bei der sich die staunenden Besucher der Pariser Weltausstellung Stromschläge versetzen lassen konnten. Nun ja…

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    • Das verstehe ich nicht ganz. Was meinte sie mit „umlernen?“ Wurde bei euch die Vereinfachte Ausgangsschrift eingeführt? Danke für dein Beispiel der Elektrisiermaschine. Man kann sich das noch als Faszination an Technik erklären, geht aber in die Richtung der schädlichen Strahlung.

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      • Ich bin mir nie ganz sicher, welche es war. Die vereinfachte Ausggangsschrift war es nicht, die Anfänge und Enden der Buchstaben stimmen nicht. Ich glaube, es ist die lateinische Ausgangsschrift. Unsere Lehrerin benutzte dagegen eine Schriftart, bei der das große W zum Beispiel spitz war, und sie sagte, so habe sie das in der Schule gelernt. Ihre Schrift war für uns sehr gut lesbar, aber eben anders. Ich habe leider keine Schriftprobe von ihr mehr…

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  3. Bei mir ist genau umgekehrt: Ich habe meine erste Lehrerin nicht gemocht. Ich weiß, ich bin vermutlich der einzige Erstklässler gewesen, der mit Widerwillen zur Schule ging und gut und gern auf das Schreiben hätte verzichten können. So sieht meine Handschrift auch heute noch aus. Lehrer prägen eben im Guten wie im Schlechten oftmals ein Leben lang.

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  4. Lieber Jules,

    Das arme Fräulein Lamboy, wie gemein sind Krämpfe in den Händen? Meine Heldin wäre sie bestimmt auch gewesen, so tapfer.
    Die lateinische Ausgangsschrift kann ich auch noch. Mit links lernte ich sie bevor ich eingeschult wurde vom Hasen Cäsar. Der war Mitte der Siebziger ein echter Vorschulburner. Lesen lernte ich kurioserweise mit einem Noris-Stempel, in dem man gummierte Buchstaben ‚setzen‘ konnte. Später signierte ich meine Kinderbücher mit ihm als Ex libris.
    Und ich muss gestehen, dass ich mit manchen Büchern ‚arbeite‘ und Haudenlukassätze zart bleiern unterstreiche.
    Doch nur mit sehr wenigen Exemplaren verfahre ich derart. Jack Kerouac und Boris Vian verführten mich dazu…

    Als mein Bein gebrochen war, hatte ich Angst, dass es ewig bis nie dauern könnte, bis es wieder heil ist. Fünf Monate Nullbelastung. Gift für Muskeln. Der Doc sagte: Es war vorher ein Sportlerbein. Bei der Heilung wird sich der Körper an diesen letzten Zustand zurück erinnern. Es war so. Gemessen an der Schwere der Verletzung, stellten sich alsbald und dank regelmäßigem Training schnell die alten Muskeln wieder ein. Meine Überlegung führt in die Richtung, ob es sich bei einer trainierten Schreibhand ähnlich verhalten könnte?

    Liebe Grüße,
    Amélie

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    • Liebe Amélie,
      ja, Fräulein Lamboy galt damals als medizinishes Wunder und wurde von ihren Ärzten auf Kongressen vorgeführt, wenn ich mich recht erinnere. Den Noris-Stempelkasten hatten wir übrigens auch. Ich habe im Studium auch mit Unterstreichungen und Marginalien gearbeitet, aber inzwischen eine große Scheu, es weiterhin zu tun. Was du über Muskelerinnerung schreibst, scheint mir plausibel. Aber letztlich ist es egal wieso. Vermutlich haben viele Menschen noch ihre Kinderschrift.
      Schöne Grüße,
      Jules

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