Immer öfter passiert es, dass ich an einem Text arbeite, ihn nicht fertigstelle, abspeichere – und vergesse. Wenn ich nicht zufällig darüber stolpere, schlummert der Text auf immer in den Tiefen meiner Datenbank. Als ich am Manuskript von „Buchkultur im Abendrot“ arbeitete, habe ich abschließend das Literaturverzeichnis von Karteikarten abgetippt, ohne zu merken, dass ich das schon einmal getan habe. Kürzlich fand ich bei meinen Dateien einen Ordner „Diskette“ und darin eben dieses Literaturverzeichnis geschrieben im Jahr 1999 mit der Schreibsoftware „Letter Perfect“, Suffix lpf.
Das Besondere dieser Fassung: Sie ist kommentiert. Denn auf den Karteikarten befinden sich nicht nur die bibliographischen Angaben zu verwendeten Büchern, sondern auch Bemerkungen zu den Autoren und eine Beschreibung der Inhalte. Etwa zwei Tage verbrachte ich damit, die Letter-Perfect-Steuerzeichen aus der Datei zu entfernen. Vielleicht kann Word von Microsoft noch LPF-Dateien lesen. Mein Open Office Writer stellt die Datei dar, wie der Screen Shot zeigt, hatte ursprünglich über 400 Seiten, wobei die Steuerzeichen, die als Leerseiten interpretiert wurden, je Leerseite anders lauteten, so dass hier die Suchen-Ersetzen-Funktion nicht half, sondern alle manuell getilgt werden mussten. Die fehlende Abwärtskompatibilität neuer Software ist auch ein Problem unserer Tage. Das gereinigte Ergebnis hat 31 Seiten und sieht beispielweise so aus:
- Agrippa von Nettesheim 1531/1533: Die Eitelkeit und Unsicherheit
der Wissenschaften und die Verteidigungsschrift; Hg. von Fritz Mauthner, München 1913
Agrippas skeptisches Hauptwerk, in dem er sich gegen die Wissenschaft, den Aberglauben, die Magie, den Adel und die Kirche wendet und gleichsam alles widerruft, was er in seinen vorherigen Schriften verbreitet hat, die er seltsamerweise etwa zeitgleich wiederauflegen ließ. Das Buch ist fein gestaltet von Paul Renner und von Fritz Mauthner erhellend eingeleitet und kommentiert. Dem Text liegt eine anonyme deutsche Übersetzung aus dem Lateinischen von 1713 zu Grunde. Mauthner hat die hier fehlenden Passagen nachgetragen und, wie er sagt, die gröbsten Sinnentstellungen und Fehler der alten Übersetzung getilgt.
Aicher, Otl / Krampen, Martin 1977: Zeichensysteme der visuellen Kommunikation, Stuttgart
Otl Aicher erfand die heute weltweit verbreiteten Sportpiktogramme (erstmals für die Olympischen Spiele 1972 in München) und prägte später das Erscheinungsbild des ZDF entscheidend. Von ihm stammt auch die ZDF-Hausschrift. Zusammen mit dem Kommunikationswissenschaftler Krampen hat er hier eine Dokumentation und Bestandsaufnahme heutiger nonverbaler Zeichensysteme vorgelegt.
Andersch, Alfred 1977: Der Buddha mit der Schmetterlingskrawatte, in: Öffentlicher Brief an einen sowjetischen Schriftsteller…, Reportagen und Aufsätze, S. 163-165, Zürich
Gemeint ist der Buchkünstler und Typograph Jan Tschichold, der lange Zeit Andersch‘ Nachbar war.
Arntz, Helmut 1944: Handbuch der Runenkunde, 2. Auflage, Halle/Saale
Trotz der Entstehungszeit keine nationalsozialistisch gefärbte Behandlung des Themas. Wie rührt mich das Vorwort, in dem der staunende Leser erfährt, dass diese 2. Auflage „im Felde“ in „Einsatzpausen“ und im Heimatlazarett“ geschrieben wurde. Seit der 1. Auflage habe er „fünf Jahre über diese Fragen arbeiten können und, was vielleicht entscheidender ist, vier Jahre im Felde über sie nachgedacht. Früh beginnen die Winternächte im Osten, in der Kalmückensteppe versank bald nach Mittag die Sonne und mit ihr der Tag, und in dem langen Sinnen ward vieles unsicher, was einst sicher schien. Alte, immer wieder nachgesprochene Ansichten sind nun aufgegeben. was aber aus der neuen Durchdringung des Stoffes entstanden ist, ergibt ein geschlossenes und darum einfaches Bild – möge die Wahrheit auch hier das Einfache sein.“
Arntz, Helmut 1935: Das Ogom, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache u. Literatur, Bd. 59, Halle, Reprint New York London 1971, S. 321-413
Einzigartige umfassende Arbeit über das geheimnisvolle keltische Runensystem, in gemäßigter Kleinschreibung gedruckt.
Assmann, A. u. J./ Hardmeier, Chr. (Hg.) 1983: Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation, München
Arbeiten zur kulturellen Bedeutung von Oralität und Literalität.
In einer bald erstellten Neuauflage von „Buchkultur im Abendrot“ wird die komplette Kommentierung der Bibliographie zu finden sein. Ich muss die Datei aber noch einpflegen.
Wieviel Arbeit und Lebenszeit in Bibliographie steckt.. Da kann ich nur wünschen, dass nicht nur oberflächliche Menschen wie ich darüber fliegen, sondern welche, die das mit Sinn und Verstand zu würdigen wissen…
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Die Arbeitsstunden sind nicht zu ermessen, die Lebenszeit aber war gut verbracht. Seit den 1980-er Jahren habe ich mich mit der faszinierenden Frage beschäftigt zu schauen, was die verschiedenen Wissenschaften über Schrift aussagen. Denn mir war aufgefallen, dass beispielsweise die Linguisten wenig bis gar nichts von Typografie verstehen, obwohl die meisten Erscheinungen unserer Orthographie typografische Ursachen haben, Mein Ziel war, die Phänomene der schriftlichen Kommunikation interdisplinär zu verstehen. Ob das mal jemand anderes als ich zu würdigen weiß, ist dann eher zweitrangig gewesen. Trotzdem freue ich mich natürlich, wenn das jüngst entstandene Buch seinen Lesern etwas sagt.
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Die Frage, die dich da umgetrieben hat, und diesen interdisziplinären Ansatz finde ich auch sehr spannend. Das geht mir mit vielen Dingen so.. Ich bin mehr jemand, der in der Breite abgrast, statt tief zu bohren (wie es auch mein Mann macht).
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In vielleicht 1000 Jahren oder weniger, wenn Außerirdische auf der Erde landen und nach vergangenen Kulturen suchen, könnte ihnen ein Ausdruck wie dein Screen Shot ein wertvolles Indiz sein …
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Die Datei war wegen der vielen Leerzeichen und rätselhaften Codes über 400 Seiten lang. Da hätten die Aliens genug Material, um unsere Welt der 1990-er Jahre zu rekonstruieren. 😉
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Ich finde gelegentlich Texte auf meinem Rechner, die mir völlig fremd sind. Manchmal, wenn ich sie ganz lese, kann ich rekonstruieren, warum sie entstanden sind. Aber eigentlich habe ich sie ja nicht vermisst. Woraus ich schließen könnte, dass es ziemlich egal ist, ob ich einen Text fertig schreibe.
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Deine Schlussfolgerung kann ich nicht teilen. So gesehen wäre auch egal, ob überhaupt einer von uns etwas schreibt. Tatsächlich tun wir etwas Müßiges. Wir sind die von der Feldarbeit freigestellten Kopfarbeiter, spielen ein wenig mit Wörtern. Dem wäre mit Schillers Sentenz zu entgegen: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“
Als ich anfng mit Bloggen, hatte ich für zwei drei Jahre einen Überblick über meine Texte. Inzwischen ist der völlig weg. Ich lese einen verspätet eingetroffenen Kommentar wie deinen hier und muss mich zuerst vergewissern, was ich im Text geschrieben habe.
Die Entfremdung von eigenen Texten hilft sogar, die Qualität zu beurteilen, was laut Horaz erst nach neun Jahren möglich ist.
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