Sendschreiben von Gaunern – Sand für die Augen

Weckerchen Holger hat weiß Gott schon Schlimmes erleben müssen.Trotz allem tat es Jahr um Jahr treue Dienste, aber letztens warf ich es aus Unachtsamkeit zu Boden. Da hat Weckerchen Holger sein kleines Leben ausgehaucht. Es ist nicht ganz tot, kann immer noch sein artiges Weckpiepsen von sich geben. Es liegt hinsichtlich Zeitansage noch zweimal täglich richtig, nämlich am amtlichen Todeszeitpunkt, um genau fünf Uhr 35, wo seine Zeiger stehen geblieben sind, aber das zu wissen nutzt niemandem.

Mit Bedauern begrüße ich den Hinscheid von Weckerchen Holger, denn mein Versuch, einen Ersatz zu besorgen, führt mich geradewegs zu einem typografischen Thema, das mir schon lange am Herzen liegt, dessen Behandlung ich aber immer wieder schändlich hinausgeschoben habe. Also: „Bitte vorsorglich blinzeln!“ Es geht um etwas ganz Kleines, nämlich um Augenpulver, über das sich schon der große Philosoph Arthur Schopenhauer ereifert hat.

In der Bleizeit war die kleinste gängige Schriftgröße 6 typografische Punkt, genannt Nonpareille. Sechspunktschrift hieß in der Druckersprache „Augenpulver.“ Sie war Allgemeinen Geschäftsbedingungen vorbehalten, dem sprichwörtlich „Kleingedruckten“, das immer schon wirkte wie Sendschreiben von Gaunern.  Es gab noch kleinere Schriftgrößen, 5 Punkt = Perl, 4 Punkt = Diamant. Um sie überhaupt greifen und setzen zu können, waren Perl und Diamant auf sechs Punkt Kegeln gegossen. Schon Sechspunktschrift war je nach Zeilenbreite bei Schriftsetzern unbeliebt, denn bei der kleinsten Unachtsamkeit drohten Zeilen in sechs Punkt auseinanderzubrechen, und der Setzer hatte einen sogenannten „Eierkuchen“ fabriziert.

Diese materielle Beschränkung ist bei digitalen Schriften aufgehoben. Hinzu kommt, dass die in Computer-Software verwendeten Schriftgrößen dem amerikanischen Pica-Maß entsprechen. Sie heißen irreführend „Punkt“, sind jedoch etwa einen Punkt kleiner als das von den Druckern verwendete deutsch/französische Punktsystem. Bei Computersoftware sind die Größen 5, 6, 7 schon Augenpulver.


Mit der digitalen Textgestaltung hat sich eine Unsitte breitgemacht, nämlich winzigste Schriftgrößen bei Aufdrucken auf Verpackungen und Behältern. Das ist besonders bei Kosmetikartikeln anzutreffen, wie in den Bildbeispielen zu sehen. Der Aufdruck auf dem Speick-Aftershave veranlasste mich, an das Unternehmen zu schreiben, immer im Dienste der Augenhygiene, allerdings zugegeben nicht besonders freundlich und wirkungslos:

Die ausweichende Antwort finde ich leider nicht mehr. Was aber hat der Tod von Weckerchen Holger damit zu tun? Gestern fragte ich in einem Laden nach einem Wecker. Hatten sie nicht. Stattdessen kaufte ich eine Wanduhr. Obwohl auf der Packung Platz genug ist, gefiel es dem Hersteller, seine Hinweise in Augenpulver zu verstecken.

Was ist das? Typografischer Manierismus? Ausdruck von Unvermögen? Missachtung des Kunden oder ein Anschlag auf sein Augenlicht? Der Augenarzt Hermann Cohn sah schon 1903 in seinem Buch „Wie sollen Bücher und Zeitungen gedruckt werden“ einen statistisch belegten Zusammenhang zwischen zunehmender Kurzsichtigkeit bei Schülern und dem schlechten Druck der verwendeten Schulbücher. Neben mangelnder Schwärze des Drucks seien vornehmlich die zu kleinen Buchstaben die Ursache des Übels. Seine Messungen gipfeln in der Erkenntnis, dass aus „augenhygienischer Sicht“ die Schrift nicht kleiner als 10 typographische Punkt (11 pica) sein sollte.

Die Diktion meiner launigen Einleitung könnte den Eindruck erwecken, die Sache wäre kein ernstes Thema. Ist es aber doch, nicht nur aus augenhygienischer Sicht, sondern auch und dramatisch, wenn die zu klein gedruckten Hinweise durch falsche Verwendung zu Gesundheitsschäden führen. Im Beispiel ist das Lesen zusätzlich erschwert durch den geringen Kontrast zwischen Tonfläche Rot und schwarzem Augenulver. Wenn Erdnusallergiker den fett gedruckten Hinweis übersehen, könnte das tödlich enden.

14 Kommentare zu “Sendschreiben von Gaunern – Sand für die Augen

  1. Grundsätzlich neige ich nicht zu Verschwörungstheorien und dennoch wähne ich Herstellerabsicht im Kleingedruckten. Viele sind nicht scharf darauf, die Inhaltsstoffe preis zu geben um Kaufende nicht zu verschrecken.
    Ganz lebenspraktisch: Bei mir reicht Brille abnehmen. Bei meiner Mutter wohnt eine Lupe im kleinen Rucksackfach.

    Jules, eine Frage: Hast Du eine Ahnung, wie klein im Digitaldruck technisch möglich ist?

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    • Möglicherweise wollen Hersteller Zutaten verbergen und drucken die Listen deshalb so winzig. Manchmal ist es aber typografischer Manierismus. Bei der Speick-Flasche etwa folgt die Typografie völlig disfunktional dem Flaschendesign, was leider im Foto nicht zu sehen ist.
      Wenn ich keine Lesebrille bei mir habe, kann ich nicht einkaufen, denn dann sind die meisten Zutatenlisten für mich nur Augenpulver.
      Zu deiner Frage: Theoretisch gehts immer noch kleiner. Es gibt keine Untergrenze.

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  2. Die Welt ist ja kompliziert, aber manchmal doch banal. Wer zu klein druckt, möchte nicht, dass der Text gelesen wird. Umgekehrt gilt das ja auch. Schön, dass dein Weckerchen einen Namen hatte 🙂 Da stelle ich mir vor, dass du so manchen Morgen einen kleinen Disput mit Holger ausgefochten hast.

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    • Ja, das war früher bei den Allgemeinen Geschäftsbedingungen so. Sie wurden absichtlich so klein gedruckt, damit niemand sie las. Auch heute liest sie keiner gern, auch wenn sie uns meistens im Internet begegnen, wo eher die Textmenge abschreckt.
      Winzige Zutatenlisten sind eine Frechheit gegenüber uns Kunden.
      Wenn du dem Link aus der ersten Zeile folgst, kannst du sehen, was Weckerchen Holger schon erdulden muste. 😉

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  3. Die Einladung zur diesjährigen Weihnachtsfeier meiner Firma beinhaltete dieses Jahr eine Lupe. Es war ein Hinweis auf das Krimi Dinner zu dem wir geladen waren.
    Die Freude war aus allen Büros zu hören. Alle jubelten, dass sie nun endlich genau das, was du beschrieben hast, lieber Jules, auf den Kosmetika lesen können. Der Altersdurchschnitt meiner Abteilung liegt bei 35 und wir besaßen zuvor keine Lupen. Es ist wirklich ein Graus.

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    • Dankeschön für deinen aufschlussreichen Kurzbericht aus einer jungen Abteilung, liebe Mitzi. Ich brauche eine Lesebrille seit ich 48 bin. Obwohl sich die Sehkraft seither nicht verschlechtert hat, kann ich ohne Brille nicht einkaufen, denn es wird immer kleiner gedruckt.

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  4. Ich hoffe, die Ziffern auf deiner neuen Wanduhr mögen größer sein als das Geschriebene auf der Packung. Andererseits gibt es auch Wanduhren ohne Ziffern. Ich mag sie nicht. Dann lieber eine Digitaluhr ohne jegliche Anzeige … 😉

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  5. Pingback: Sinnentleerte Dinge des Alltags

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