10. Türchen – Himmelstürchen


Obwohl noch heller Tag muss ich Licht machen, damit nicht wieder die Dunkelheit über mich hereinbricht, derweil ich nur Augen für Tastatur und Bildschirm habe, wie es gestern geschah. Plötzlich hielt ich mit dem Schreiben inne. Nur der Bildschirm spendete Licht, und ich hockte davor wie an einem Herdfeuer. Mir war, als wäre ich aus der Welt gerutscht. Doch der Bildschirm ist ein Bildschirm, ein Herdfeuer ist ein Herdfeuer, und tatsächlich rutschte ich erst in der Nacht aus der Welt. Ich lag wach, horchte in die Stille und wie ich rückwärts hochschaute, war über meinem Kopfkissen ein gelber Lichtfleck an der Wand, der wie ein Irrlicht zitterte. Wo kam er her? Natürlich, ich habe keine Vorhänge mehr, die Gardine zur Seite geschoben, das Irrlicht kam von draußen.

Mein Gedanke wanderte hinter mir die Wand hoch, fing das Irrlicht ein und spazierte über den Lichtstrahl den Weg hinaus zu einem erleuchteten Fensterchen hoch oben im Nachthimmel. Ich hatte das schon vor Nächten gesehen und war ein bisschen erstaunt gewesen. „Ein Himmelfensterchen? Neugierig klopfte ich an. Da ward das Fensterchen von innen aufgetan.
„Na, endlich“, sagte das Engelchen. „Wir können das Fenster nicht ewig offenhalten.“
„Äh, wieso?“
„Die Kosten. Wer soll das finanzieren?“
„Was soll daran so teuer sein?“
„Na, hör mal! Ein Fenster mitten im Nachthimmel und auch noch voll beleuchtet und nächtelang bewacht, weil keiner weiß, wann der Herr sich mal raufbequemt. Das kostet.“
„Könnt ihr nicht in der Kirche sammeln lassen, so wie früher, als man uns Ausschneidebögen gab, woraus man ein Häuschen basteln konnte – als Spardose für die Diaspora. Ich habe als Kind in der Adventszeit mein weniges Taschengeld komplett für die Diaspora gespart.“
„Warum?“
„Weil ich dachte, Diaspora ist ein Land in Afrika.“
„Pah!“, lachte das Engelchen, „heutige Kinder sind nicht mehr so dumm! Da müssen schon andere Einnahmequellen her.“
„Habt ihr deshalb Werbung auf dem Himmelsfenster?“
„Welche Werbung?“
Ich trat einen Schritt zurück und las sie leise ab. „Für irgendeine Baufirma.“
„Klar, die haben das Fenster aufgehängt.“
„Aber stimmungsvoll ist das nicht. Jede Bäckerei ist anheimelnder beleuchtet als euer Himmelsfenster.“
„Anheimelnder?“
„Ja, einmal fand ich nahe der holländischen Grenze eine sonst versperrte kleine Dorfkirche, deren Außentür zum ersten Mal offen stand. Ich hielt, lehnte mein Rad an und ging hinein. Hinter der Tür tat sich nur der Vorraum auf. Ein großes schwarzes Gitter versperrte den Weg ins einzige Kirchenschiff. Die Farben der Kirchenfenster waren gedämpft und erhellten das Kirchenschiff kaum. Nur unter dem Tabernakel brannte eine kleine Leuchte, so dass das warme Licht einen magischen Schein auf die Altardecke warf. DAS war ein Licht, um katholisch zu werden, wenn du verstehst, was ich meine, du komisches Engelchen.“
„Sorry, aber Katholische nehmen wir nicht.“
„Nicht?“
„Wegen unserer Compliance-Regeln, du verstehst?“
“Ach so.“
Ich schaute am Engelchen vorbei in den Himmel. Weil die Fensterbeleuchtung mich blendete, konnte ich nur schemenhaft ein vielstöckiges Gebäude erkennen, so hoch, dass es sich im Weltall verlor.
„Was’n das für ne Betonburg?“
„Ach das. Irgendwo müssen doch all die wohnen, die in den Himmel kommen.“
„Aber die meisten Fenster sind unbeleuchtet. Das Gebäude scheint größtenteils leer zu stehen. Das Engelchen zuckte die Achseln: „Wir hatten mehr erwartet. Aber wenn du möchtest …“
„Ach nee, vielen Dank.“
Ich holte meinen Gedanken zurück in mein Bett und war wieder ganz bei mir.

8 Kommentare zu “10. Türchen – Himmelstürchen

  1. Wunderbar – ein Himmelhochhaus. Irgendwie erinnert es mich an die virtuelle Wandergänge über ein architektonisch brutalistisches Land auf der Suche nach deren Bewohnern: „NaissanseE“ (muss ich auch irgendwann darüber bloggen): http://www.naissancee.com/?page_id=12

    Abgesehen davon, ich freue mich, dass die Frage nach dem Traum und Realität schon ewig da ist – früher war das Walther von der Vogelweide, in XX. Jh. waren es „The Queen“ mit „Is this the real life? /Is this just fantasy?“. Vielleicht die Frage aller Fragen. Und niemand merkt, dass wir alle in einem Luziden Traum wohnen.

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    • Danke für den passenden Link.Tolle Fotos! Jetzt wissen wir auch, wie es in so einem Himmelhochhaus aussehen könnte. Seit der Mensch träumt, fragt er sich sicher nach dem Verhältnis zwischen Traum und Wachwelt. MIr gefällt die Idee der gleichwertigen Existenz zweier Welten. Im Traum wissen wir nur wenig von unserer Wachwelt, in der Wachwelt erinnern wir den Traum kaum noch. Der Traum des Textes ist freilich komplett erfunden. Da steht seit Tagen ein Baukran in der Nähe, und an ihm ist ein quadratisches Firmenschild nächtens hell erleuchtet: Mein „Himmelstürchen.“ 😉

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