5. Türchen – Aus der Abteilung Kaffeehausphilosophie



In einem meiner Tagebücher habe ich das Zeitungsfoto eines Unfalltoten. Er liegt scheinbar unverletzt, ganz ruhig und still zwischen den Rädern eines Autos, und was mich am meisten am Bild berührt, sind seine deutlich sichtbaren Socken. Der Mann hatte sie am Morgen arglos über seine Füße gezogen und nicht gewusst, dass er diese Alltagshandlung zum letzten Mal vollzog.
Das Bild ist mir eine Metapher für die Unwägbarkeiten des Lebens. Vielleicht hatte der Mann einen Moment vor der offenen Kommodenschublade gezögert, bevor er ein Sockenpaar wählte. Diese Sekunde kostete ihn Stunden später das Leben. Der Mensch versucht die Unwägbarkeiten seines Lebens einzugrenzen. Er achtet und trachtet, wittert und schaut, fährt die intuitiven Antennen aus; doch was ihn ereilt aus unwägbarem Ratschluss, dafür hat er keinen Draht.

Das denke ich, wenn in meinem Kopf ein hübsches Durcheinander ist, wie es mir heute in der Stadt erging. Mein Kopf spiegelte die Verhältnisse. Auf den Straßen war ein eilfertiges Gewusel. Weihnachten steht an, und schon muss wieder gesucht, besorgt und getragen werden. Über allem jedoch das Wetter. Richtig Winter will es nicht werden. Mal Regen, mal kalter Wind, mal blitzt die Sonne. Ich dachte, es ist doch klar, dass man durcheinander ist. Spätestens wenn eine Frau mit Sonnenbrille von einer anderen im wattierten Mantel und aufgespanntem Regenschirm überholt wird.

Aus dem Fenster des Cafés sah ich auf den Lindener Marktplatz und dachte: Vielleicht werden die Imponderabilien nicht durch kluge Lenkung, sondern ganz banal vom Wetter angetrieben. Der Mensch macht und tut, denkt und spricht und glaubt, er gestaltet sein Leben, doch in Wahrheit steht über all seinem Trachten das Wetter und treibt die Welt, wie es gerade kommt. Natürlich äußert sich dieser Einfluss bei jedem anders. Wenn du dir eine Reihe verschiedener Marionetten vorstellst, und zögest über eine Vorrichtung gleichzeitig an allen Strippen, dann sähe das Ergebnis dieser einheitlichen Krafteinwirkung bei jeder Marionette anders aus. Wenn es so ist, dachte ich, dann wird auch Glück und Unglück wie vom Wetter verteilt. Beides treibt wie Regenschauern durchs Land und ergießt sich mal über dir, mal über mir.

Das war die Abteilung Caféhausphilosophie. Man darf nicht viel von ihr erwarten, denn sie entstand, wie gesagt, aus einer hübschen Verwirrung der Gedanken. Sich bei den Gedanken Grenzen zu setzen, setzt eine gewisse Anstrengung voraus. Manch einer flieht sie, geht lieber in eine Buchhandlung und besorgt sich ein Buch. Gedanken zwischen Buchdeckeln sind ausgerichtet, sorgsam sortiert und in eine günstige Abfolge gebracht. Wer liest, bekommt sofort gedankliche Leitung. Sagt der Text dir zu, verpasst dir der Autor einen Nasenring und schleift dich wie einen Ochsen durch die Zeilen.

Einmal geschah mir etwas Sonderbares. Eine liebe Freundin sandte mir einen Text. Eigentlich schickte sie mir nur den Link dazu und empfahl mir, den Text zu lesen. Ich habe den Link angeklickt, und der Autor, der mir da einen Nasenring verpasste, – war ich selbst.

18 Kommentare zu “5. Türchen – Aus der Abteilung Kaffeehausphilosophie

  1. Lieber Jules,

    Du tust hier genau das Richtige. Der Meditierende versucht genau das zu erlernen: den Gedanken Grenzen zu setzen. Nein- richtiger ist es, die Gedanken kommen zu lassen, sie nicht zu beurteilen um sich dann wieder auf die Nichtgedanken zu konzentrieren. Am leichtesten geht das über die Atmung. Und manchmal, so empfiehlt es sich, die Gedanken einfach schweifen zu lassen, denn wenn sie fliegen, fliegen sie auch weg und lösen sich in der Atmung wieder auf. Dann ist Meditation so etwas wie Cafehausphilosophie. Oder umgekehrt. Ein schöner Gedanke.

    Liebste Grüße
    Claudia

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    • Liebe Claudia,

      welch unerwarteter Besuch! Danke für die Anleitung zur Meditation. Über Autogenes Training bin ich leider nie hinausgekommen. Manchmal ist Schreiben eine Form der Versenkung für mich, bei der ich freilich alles um mich herum vergesse, selbst wenn ich etwa unbequem sitze oder friere. Da fällt es schwer, auf die Atmung zu achten. Aber ich werde es versuchen, wenn ich im Café sitze.

      Sei herzlich gegrüßt,
      Jules

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  2. Du hast manchmal tatsächlich diese Tendenz, Dich selbst gering zu achten. „Das hier ist nur…“ oder „…man darf nicht viel erwarten…“ kommt bei Dir öfter mal vor. Und es ist gerade dann meistens überhaupt nicht zutreffend. Deine Leser wissen das – sonst wären sie nicht Deine Leser. Wie schön, dass Du im Abstand von vielleicht Jahren (das schriebst Du nicht) Dein eigener Leser wurdest, und Dich korrigieren konntest.
    Deine Texte sind etwas ganz Besonderes; oft zum Nachdenken anregend, manchmal informativ, manchmal auch bizarr, von Zeit zu Zeit auch zu Herzen gehend, aber immer ganz „Du“.
    Ich lese sehr gerne bei Dir.
    Einen schönen fünften Dezember.

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    • Ich stapele gerne mal tief, auch eine Form der Eitelkeit. Sie bringt mir so hübsche Komplimente wie von dir. Vielen Dank, es freut mich! „Bizarr“ ist ein für mich unerwartetes Attribut. Ich glaube, dann habe ich was Passendes, geplant für den 10. Und was fürs Herz gibt es voraussichtlich am 11. Deinen am 15. oder 16.
      Dankeschön für die Aufmerksamkeit. Ich wünsche dir ebenfalls einen schönen Tag.

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      • Die Aufmerksamkeit hast Du immer. Ich kommentiere nur nicht immer. Manchmal sind Texte so treffend, dass ich nicht mehr denken möchte, als „JA“. Das geht mir bei einigen Leuten so. Und was soll man dann schon schreiben, wenn man nur „JA“ denkt?

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        • Vielen Dank! Aus diesem Grund finde ich die Mögklichkeit zu liken gut. Wenn mir kein guter Kommentar einfällt, dann zeige ich, dass ich da war und gerne gelesen habe. Da Aufmerksamkeit der Lohn des Bloggens ist, zahlt man wenigstens mit kleiner Münze.
          Ich habe die Geschichte deiner Großmutter übrigens neu terminiert auf den 23.12., schön zur Einstimmung auf Heiligabend.

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  3. Wo, wenn nicht im Cafe, könnte man herrlich philosophieren? Und warum nicht das Wetter als Ursache für alles? Manchmal hätte man ja schon gern jemanden, bei dem man sich bedanken oder beschweren kann. Wir könnten natürlich auch, vielleicht vor den Rathäusern, Statuen aufstellen, die dem blöden Zufall geweiht sind. Da könnte man dann mal kurz dagegen treten. Oder eine Flasche Sekt opfern.

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    • Leider ist die Kaffeehauskultur in Hannover nicht besonders entwickelt. In meinem Lieblingscafé ist es oft zu laut. In einem Aachener Kaffeehaus stand quer über eine Wand geschrieben ein Zitat von Alfred Polgar: „Ins Kaffeehaus gehen Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen.“ Wenn da ganze Rotten einfallen und sich einander übertönen müssen, ist’s aus mit der schönsten Kaffeehausphilosophie.

      In der griech. Mythologie ist Tyche die Göttin des Schicksals, der glücklichen (oder bösen) Fügung und des Zufalls. Ihr ein Standbild vor die Rathäuser zu setzen, ist eine prima Idee. Warum wirds nicht gemacht? Weils Heidentum ist.

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  4. Philosophische Gedanken empfinde ich am schönsten, wenn sie dem Alltag entspringen. Das tun die relevanten Fragen eh meistens.
    Ich lese das gerne, bei dir besonders. Die Emotionen und Gedanken, die der Unfalltote auslöst schwappen selbst beim Lesen über.

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  5. Das Bild ist mir noch vor den Augen. Vor einem viertel Jahr. Der SUV wollte rechts auf der Kreuzung abbiegen und die Fahrerin übersah den Radfahrer. Der SUV hob und senke sich zweimal, als sei er über eine Bodenwelle Gefahren. Die Fahrerin stieg verwirrt aus, ging auf den am Boden liegenden Radfahrer zu und sagt: „Es tut mir leid, das wollte ich nicht, hören Sie.“ Und dann: „Warum sagen Sie denn nichts?“
    Es gibt Bilder, die bedürfen keines Fotoapparates, die sind für ewig ins Gedächtnis eingebrannt.

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