Mit Brett vorm Kopf fällt Einreihen schwer

Wenn Thorheit täte weh, o, welch
erbärmlich schreyn
Würd in der ganzen Welt in allen
Häusern seyn!
(Friedrich von Logau)

Sonntagmorgen 9:45 Uhr in der Bäckerei. An der Theke entlang stehen wartende Kunden bis in den Bereich der Tische hinein. Ich stelle mich trotzdem hinten an, denn es ist Platz genug. Als nächster betritt ein junger Mann den Raum und bleibt seitlich der Tür stehen. Auch als die Schlange weiter vorrückt, schließt er nicht auf, so dass nachfolgende Kunden sich am Eingang knubbeln, eine Frau sogar in der offenen Tür stehen muss. Das müsste er eigentlich merken, denn es zieht kalt herein. Inzwischen bin ich mit der Schlange weiter vorgerückt. Aber er reagiert nicht, steht im Raum und guckt wie ein Depp, wartet offenbar darauf, dass er schnurstracks zur Ladentheke gehen kann. Mich bedient die junge Muslima, da tritt er neben mich vor die zweite Verkäuferin, und der Stau bei der Tür kann sich auflösen. Wie er bestellt, bin ich überrascht, denn er redet nicht so deppert wie er ausgesehen und sich verhalten hat, sondern formuliert mit klarer Stimme wie ein gebildeter Mensch. Er ist also kein Depp, sondern ihm fehlen nur Umsicht und Rücksicht, die wichtigsten Bestandteile der sozialen Kompetenz. Er ist wie viele eigentlich allein auf der Welt, hat nur sich und seine Absichten vor Augen und niemand hat ihm je gesagt, dass das eine Form der Idiotie ist.

24 Kommentare zu “Mit Brett vorm Kopf fällt Einreihen schwer

  1. Solch empathiefreies Verhalten irritiert mich immer wieder, und manchmal empört es mich auch. Doch mehr bin ich irritiert, weil ich mir selbst so eine Dreistigkeit nicht erlauben könnte. Nicht, weil ich ein guter Mensch sein wollte: es ging einfach nicht.

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  2. Ich stimme mit Ihnen überein, daß das Verhalten des jungen Mannes Erstaunen und Ärger verursacht. Mehr noch aber wundere ich mich über die schweigende Duldung der anderen Wartenden – fehlt uns inzwischen die Lust zur Kommunikation, oder ist es Angst vor dem Auffallen, oder Furcht vor möglicher Aggressivität, schlichtweg – fehlt’s an Zivilcourage um solche „Flegel“ in die Schranken zu weisen? Dasselbe Phänomen bemerke ich ebenso, in der U-Bahn und anderswo… meine Erfahrung: einfach ansprechen, oft schon hat’s geholfen und mich wiederum erstaunt. Die Jungen brauchen eine soziale Formung, scheint’s.
    Danke für das Aufzeigen einer Alltagserfahrung. Und danke für Ihr Forum, dessen schweigender Leser ich gelegentlich bin – beim Kaffee…
    Friedrich

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    • Diese „schweigende Duldung“ habe ich schon mal in Hannover erlebt, und zwar beim Poetry-Slam in der Faust. Da war es voll, und wer spät kam, musste am Rand stehen. Zuletzt kam eine Blondine, verschmähte den Rand, platzierte sich gut gelaunt mitten im Raum und verstellte etwa 25 Leuten die Sicht auf die Bühne. Immerhin, wenn sie eitel mit dem Kopf wackelte, konnte ich durch ihre Haare gucken. In der Pause stand ich draußen bei den Rauchern. Da sagte einer: „Ich sehe nur den Rücken von so einer blöden Blondine im weißen T-Shirt.“ Darüber habe ich mich gewundert. Wenn er gleich hinter ihr saß, warum hat er sie nicht ermahnt? Das ist typisch für Hannoveraner; sie ertragen selbst Unverschämtheiten geduldig und murren nur, wenn sie glauben, unter sich zu sein.
      Sie haben Recht, soziale Formung muss von außen kommen. Danke für Ihren Kommentar.

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    • Das ist jetzt aber sehr neutral formuliert, liebe Ann. Soll man es entschuldigend hinnehmen, wenn Mensch sich dissozial verhalten? Ich habe gelesen, dass es in Deutschland etwa eine MIllion Menschen mit soziopathischen Persönlichkeitszügen leben. Diese Menschen habe kein Interesse daran, sich sozialdienlich zu verhalten. Eine Sozialgemeinschaft muss Strategien haben, damit umzugehen.

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      • Mann muss es nur nicht persönlich nehmen. Sicherlich darauf aufmerksam machen, aber nicht immer Absicht dahinter sehen.
        Mich nervt bspw. diese immer wieder dieses Vordrängeln beim Buseinsteigen o.ä.

        Eine Methode, die immer funktioniert, wenn Schüler in Mengen dumm herumstehen und Unsinn machen, laut zu brüllen. „Platz machen, Leute wollen durch“, ich amüsiere mich immer wieder, dass es funktioniert. Bis sie kapiert haben, dass ich kein Lehrer bin, ist schon Platz.;-)

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    • Ich bin anders als Jules ganz auf Deiner Seite: mir ist genau wie Jules Ähnliches widerfahren, und es machte sich bereits murmelnd Unmut breit. Als ich Übernäster habe ich den Stopper gefragt, ob er auch etwas kaufen wolle, und er hat sich erschrocken entschuldigt. Einfach direkt fragen bringt manchmal Klarheit. Schöne Grüße

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  3. Lieber Jules,
    Warum eigentlich hat denn den merkbefreiten Herrn niemand aufmerksam gemacht? „Wären Sie bitte so freundlich einen Schritt vorzu treten damit die anderen nachrücken können und nicht in der Kälte stehen müssen?
    Wäre das unhöflich, sowas zu fragen?
    Hmmm…ich würde das ja glatt machen…manche verträumen sich nur und erschrecken richtig wenn man sie anspricht; Hallo Newston, hier ist die Venus, wir haben ein Problem…oder so…

    Sich über Deppen zu ärgern macht sauer…und Sauer macht krank…
    Ich spende deshalb der Schalange vorm Tresen eine Runde Karamellsahnebonbons zum Neutralisieren.Geht es Dir besser…?
    Liebe Grüße von der Fee ✨

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    • Liebe Fee, das habe ich mich auch gefragt. Aber mir scheint das schweigende Ertragen eher typisch für Hannoveraner zu sein, wie ich im Kommentar an Friedrich berichtet habe. Ich hatte ja nicht wirklich Grund, mich zu ärgern, weil der Depp zum Glück nicht vor mir stand. Trotzdem dankeschön für deine Bonbonspende und lieben Gruß,
      Jules
      PS: Danke, dass du fragst. Ich habe nur noch wenig Schmerzen und letzte Nacht auch ohne Schmerzmittel schlafen können.

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  4. Es sind immer die Deppen, die im Weg stehen.
    Nach den Kommentaren die ich eben gelesen habe…man sollte es wohl einfach sagen. „Sie? Sie stehen so richtig deppert im Weg.“ Mit einem Lächeln sagen. Oder sich still ärgern wie ich. Und in jedem Fall darüber schreiben. Denn geschrieben löst sich der Ärger auf, lieber Jules. Falls nicht, vergiss ihn jetzt 🙂

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  5. Pingback: Fünf Schritte vor dem Untergang

  6. Klag mich jetzt an für meine Phrase: Andere Zeiten, andere Sitten. Denn es ist die Aufgabe der Älteren, die Jüngeren in deren Verhalten zu verstehen. Das hatte ich vor 30 Jahren nicht anders gesehen … Hört sich für uns Älteren paradox und erziehungsfehlgeleitet an, manche nutzen auch dann gleich das hohle Schlagwort „Empathie“ dafür. Wir erleben das, was unsere Eltern mit uns erlebt haben. Und damals haben wir von denen Verständnis erwartet. … Kein Plädoyer für unhumnistisches Fehlverhalten, sondern für generationenübergreifendes Verstehen des anderen.

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    • Die ganzen Leute, die durch den Deppen aufgehalten wurden, waren doch nicht alle Ältere. Wenn eine junge Frau in der Kälte stehen muss, weil der Tünnes nicht aufschließt, hilft ihr dann generationenübergreifendes Verstehen? Denk doch mal nach!

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      • Schon klar. Weswegen ich auch paradox und nicht absurd geschrieben hatte. Das eine verlangt die Überlegung der anderen Seite, um es aufzulösen. Eine Generalisierung ist damit allerdings generell nicht passend, was ich eigentlich voraus gesetzt hatte. Wer wiegt mehr? Das Individuum oder die extrapolierten Ziele einer Allgemeinheit, welche eine Extraploation generell von sich wegweist? Der Fall unter der Lupe betrachtet macht einen anderen Eindruck als unter der Lupe der Gemeinschaft betrachtet. Gerade diese tägliche Extrapolation macht das aus, was Leute mit dem Schlagwort „Empathie“ für sich vereinnahmen wollen, um andere auszugrenzen. Der Jüngling, den du als Depp qualifizierst, ist gemeinschaftunkompatibel, weil er der Gemeinschaft mehr Probleme bringt als für sich als Individuum an sich. Ist diese Denke so unverkehrt? Es wird von aktuellen Eltern permanent instruiert, es wird von allen Politikern gefordert als Q-Merkmal einer Gesellschaft, es wird analog im Fernsehen postuliert. Warum haben entsprechende Strömungen der Politik momentan so einen Wumms? Nicht weil, die 80er der Pazifismusbewegung die Politik übernommen haben, sondern weil die Schüler des „Survival of the fittest“ die Lehre in den 80ern in sich aufgesaugt haben. Inzwischen haben die Nachkommen der 80er, welche sich gegen den pazifistischen Ideen gestellt haben (und das waren wohl 75%, obwohl 25% die Diskussion hervorgerufen haben). „Surviva of the fittest“ interessiert sich nicht dafür, ob ein anderer meint, jener sei ein Depp, weil solch ein Denker eh kein signifikanter Faktor des Gedankenganges dar stellt.Das stoßen halt zwei Vorstellungswelten er Moral aufeinander: die eine scheint auf Grund ihrer Tradierung grechtfertigt zu sein, während die Jungen gerade das in Frage stellen und es in ihrer Verhaltensweise demonstrieren. Das geht bis in die Bäckereien. Lass uns in zwanzig Jahren darüber unterhalten, wie diese Generation deren Verhaltensweisen in Frage gestellt hatte und in eine andere Richtung lenkte. Vielleicht leben wir in zwanzig Jahren nicht mehr (ich jedenfalls nicht mehr), daher werden wir Probleme haben, meine Gedankengänge überhaupt zu verifizieren. Also lass uns vom heutigen Datum 30 Jahre zurück gehen und das Denken, Fühlen, Sprechen der Generation der 20-jährigen verstehen. Es ist nicht einfach.

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