Abendbummel durch das Reich der Lichter

„Jeder Gang macht schlank!“, sagte meine schlanke Zahnärztin. Während die aparte Frau ihr Handwerkszeug zurechtlegte, während dieser ersten Stufe der Folter, bei der dem Delinquenten die Marterwerkzeuge gezeigt werden, hatte sie berichtet, dass sie am Morgen von Ahlem zu Fuß gekommen sei, weil sie ihr Bike in der Praxis hatte stehen lassen müssen. Ich lobte sie gebührend für diesen langen Fußweg, nicht nur, um sie gnädig zu stimmen, bevor sie sich über meine Zähne hermachte, sondern weils mir ehrliche Achtung abverlangte.

An ihren Spruch muss ich in den letzten Tagen oft denken. Direkt nach dem Rippenbruch habe ich nicht gewagt, Rad zu fahren – aus Sorge, eine plötzlich auftretende brenzlige Verkehrssituation würde eine heftige Bewegung nötig machen. Also bin ich alle nötigen Wege gegangen. Das gelang von Tag zu Tag besser, denn ich war durch die Radfahrerei etwas eingerostet, was das Gehen betrifft. Heute habe ich beschlossen, die Tradition des Abendbummels wieder aufleben zu lassen. Es gab da nämlich noch einen weiteren Aspekt:
In den letzten Tage war ich von einer depressiven Stimmung geplagt gewesen, fand mein Alleinsein grad schrecklich und trug schwer am allgemeinen Weltschmerz. Als ich am späten Nachmittag allzu niedergedrückt war, raffte ich mich auf zu einem Bummel – und muss sagen, meine Stimmung besserte sich.

Wer das Haus verlässt, sehe, dass sich in der Welt etwas selbsttätig bewege, hatte mein Sohn am Fernsprecher gesagt, als er meinen Spaziergang lobte, eine Bemerkung, worüber ich heute Morgen beim Aufstehen nachdachte. Tatsächlich muss der Stubenhocker seine ganze Welt alleine drehen. Sie ist zwar geschrumpft, aber verdichtet und um so schwerer zu bewegen. (Nebenher, ich dachte, das dahinsiechende Wort „Fernsprecher“ könnte ich durch Verwendung einfach mit neuem Leben erfüllen. Aber genau betrachtet, bleibt es im Satz ein sperriger Fremdkörper.)

Ich gehe los in einen unverschämt goldfarbenen Sonnenuntergang. Mein Ziel ist der Lindener Berg, den ich von seiner nördlichen Seite besteigen will. Die Route ist ohne Bergführer zu schaffen, und ich musste auch keine Sherpas anmieten, die mir den Radiergummi hinterher tragen. Das ist kein Problem, denn der kleine Radiergummi ist in den Knopf meines Druckbleistifts integriert und wiegt fast nichts, zumal ich den Bleistift gar nicht bei mir habe, hehe. Also los. Die Autos, die mir aus dem Abendrot entgegen kommen, fahren mit Licht. Ich muss an ein Gemälde des belgischen Surrealisten René Magritte denken, das ich sehr mag: „Das Reich der Lichter.“ Auch da gibt es die Konkurrenz zwischen natürlichem und künstlichem Licht.

Schon quere ich die Fahrstraße, lasse das Reich der Lichter hinter mir und nehme den steilen Weg zur Kuppe des Lindener Bergs. Weil ich noch unterhalb der Baumgrenze bin, steige ich über einen dichten Teppich gefallener Blätter. Es dauert übrigens vier Jahre, bis am Boden liegendes Laub verrottet und in den Kreislauf des Baumes zurückgekehrt ist, falls der Mensch nicht mit lärmenden Laubbläsern anrückt und den Kreislauf stört, die Bäume quasi entkräftet. Links von mir liegt still der Friedhof. Es ruhen dort keine vereisten Leichen sich überschätzt habender Finanzjongleure wie am Himalaya, sondern manierlich gestorbene Leute. Würde ich den Gottesacker schräg durchqueren, wäre der Aufstieg leichter. Aus Bequemlichkeit steige ich fünf Stufen hoch zu einem seitlichen Törchen, rüttle an der Klinke – abgesperrt! Ich wende mich ab, denn ich bin zu jung, um hartnäckig an der Friedhofspforte zu rütteln. Was sollen die Leute denken? Dass ich es nicht erwarten könnte? Rechter Hand in der Wohnwagenkolonie ist man offenbar genervt vom zunehmenden Bergtourismus. „Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet“, ein wahres Wort von? Hans-Magnus Enzensberger.

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Eine Frau mit Hund ist über die bequeme westliche Route herangefahren, parkt ihr Auto etwas unterhalb des Gipfels und kommt staunend mit ihrem Hündchen an mir vorbei, derweil ich das Beweisfoto mache, damit böse Zungen nicht anzweifeln können, dass ich im Hochgebirge unterwegs war. Ich halte mich nicht lange am Gipfel auf. Der Abstieg ist mir so leicht wie der Aufstieg. Als ich wieder bewohnte Gefilde erreiche, sehe ich linker Hand gutsituierte Häuser. Im Erker des einen habe ich vor Jahren eine Frau fotografiert, wie sie idyllisch Flöte spielend hinterm Fenster stand. Sie ist nicht da, bastelt wohl gerade nach, was kürzlich im Fernsehen angeregt wurde, dass und wie man eine Orchidee mit Wurzelballen dekorativ ins Fenster hängt. Wenig später sah ich einen erschütternden Bericht über den Jemen, der von der saudischen Luftwaffe in die Steinzeit zurück gebombt wird. Verrohte Gewalt, erbärmliches Sterben, Verhungern der Kleinsten dort und Flöte spielen an Orchideen hier – kein Wunder, dass der Mensch aus geschundenen Regionen die Zustände bei uns paradiesisch findet. Aber er täuscht sich. Die guten Plätze auf diesem Felsen halten wir besetzt. Und für den Unterhalt unseres Paradieses brauchen wir Blut, Tränen und letzte Atemzüge unzähliger Menschen. Was sollen wir machen? Unsere Betriebskosten sind einfach zu hoch.

Andererseits würfe es ein schlechtes Licht auf die menschliche Art, wenn der ganze Erdball unter Gewalt, Leid und Sterben durchs Weltall taumeln würde, ein Planet der Qualen, der die Sterne verdunkelt. Glücklich, wen hinieden ein gnädiges Schicksal ins Reich der Lichter verschlagen hat. Es geht ja auch nicht, ermahne ich mich, einen heiter begonnenen Bummel so qualvoll zu beenden. Schon haben wir die belebte Kreuzung erreicht, an der ich letztens verunglückt bin. Mein Schornsteinfeger wartet auf der anderen Seite auf Grün. Er winkt mir zu und radelt dann verkehrswidrig quer über die Kreuzung, um links in den Park einzubiegen. Wie er vorbei fährt, sagt er: „Ich muss mich hier durchmogeln.“ Natürlich, er darf das schadlos. Er ist der Schornsteinfeger. Bevor er in den sicheren Park einbiegt ruft er noch: „Schönen Feierabend!“ Ich freue mich, obwohl ich konkret nichts zu feiern habe.

Guten Abend

15 Kommentare zu “Abendbummel durch das Reich der Lichter

  1. Hängen Fernsprecher nicht an einer Wand und man muss an einer Kurbel drehen, um ein Amt zu bekommen, in dem ein Fräulein sitzt, das Stecker umsteckt und immer sagt: „Moment, ich verbinde!“? Und wo sprichst Du normalerweise rein? In die Muschel einer Gabel oder in ein Smartphone? Bei meinen ersten Smart-Gesprächen hatte ich das Gerät auf dem Tisch oder sonstwie vor mir, weil ich das Gefühl hatte, dass mich Leute für bekloppt halten, wenn ich mir meine Brieftasche ans Ohr halte und in sie reinspreche.

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    • So antiqiuiert wirkt das Wort tatsächlich, dass sich damit deine Assoziation verbindet. Für mich ist es nur eine Eindeutschung von Telefon – wie vorher schon Postwertzeichen/Briefmarke statt Frankatur, Umschlag statt Couvert, Anschrift statt Adresse. Kurios deine Besorgnis wegen des Smartphones. „Was für ein armer Kerl“, habe ich gedacht, als jemand wild gestikulierend übern Aachener Münsterplarz kreiste, bis ich begriff, dass er nicht mit sich selbst diskutierte, sondern über Ohrstecker und Handy telefonierte.

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  2. Irgendwie sind mir die spannenden Sachen, wie Knochenbrüche und Fernsprecher, ein wenig entgangen. Ich schicke Dir hiermit mein gesammeltes Mitgefühl der letzten Tage / Wochen und gutes Genesen. Und doch, Du hast bestimmt etwas zu feiern. Leute, die Du gar nicht „live“ kennst, und die Dir trotzdem alles Gute wünschen. Wer hat das schon. Darauf einen schönen… Tee?

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    • Es läuft ja nichts weg. Vielen Dank für dein Mitgefühl und die Genesungswünsche! Du hast völlig Recht; den von dir angesprochenen Luxus gilt es zu feiern. Ich weiß das zu schätzen, dachte nur, dass einen Feierabend nur feiern darf, wer sich tagsüber in seinem Beruf erschöpft hat, nicht ein Müßiggänger wie ich. Tee ist prima.

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      • Oh nein! Ich hatte heute meinen freien Tag und feiere gerade dessen langsames Dem-Ende-Entgegentrudeln. Es ist viel netter, das Ende eines schönen, freien Tages zu feiern als das eines stressigen, nervigen Arbeitstages. Ganz abgesehen davon, dass jemand, der kilometerweit läuft, sich mit Friedhofstüren anlegt und dabei schwerwiegende gesellschaftliche Probleme sowie den Verlust von Worten überdenkt, sich wirkllich einen feierlichen Tee verdient hat. Möglicherweise sogar mit Vanillerum (es wird kalt draußen. Da darf man mal.)

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  3. Lieber Jules,
    Bewegung, ob virtuell nachtwandernd oder beim ‚Abendbummel‘(mag das Wort…) hilft verlässlich gegen Einsamkeit. Ich hätte da so eine Idee…. also falls Du mal virtuell abendbummeln willst und du möchtest gerne mit anderen zusammen laufen, könnte man das in den Kommentaren tun. Es wäre ein Dialogprojekt. Stelle es mir lebendig vor. Es ist nur so ein Gedanke. Ich habe eine App, bei der man sich virtuell begleiten lassen kann. Sie dient weniger den Austausch, ist eher so ein Sicherheitsding, dann wenn etwas passiert, kann der andere sofort Hilfe holen – selbst, wenn er nur virtueller Begleiter ist. Ich finde diese Idee nicht schlecht und die Idee des Nachtwanderns fasziniert mich weiter. Das war wirklich schön!
    Wenn der Körper Kraft vermisst, zehrt das auch die Antriebsenergie.
    Weiterhin gute Genesung!
    Liebe Grüße von der Fee ✨🌈

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    • Du denkst an eine Sorte online-Bummel, liebe Fee? Ich versuche gerade, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen. Die Rubrik heißt ja eigentlich „Abenbummel online“ und war immer gedacht als Einladung zum virtuellen Mitbummeln, formal zu erkennen am literaischen Du wie beispielsweise hier https://trittenheim.wordpress.com/2015/09/07/abendbummel-online-eulenflucht/#more-343 und natürlich bei der digitalen Nachtwanderung kürzlich. Tatsächlich über Smartphone-App virtuell begleitet zu bummeln, wäre die konsequente Weiterentwicklung. Ich weiß nicht, ob ich das kann, denn vom Smartphone zu bloggen, stelle ich mir schwierig vor. Ich bin für die kleinen Tasten zu grobmotorisch, und es würde mich vom Sehen ablenken. Trotzdem will ich das weiter bedenken. Meine negative Bemerkung zum Alleinsein war der Tasache geschuldet, dass ich zwar tagsüber fast schmerzfrei bin, aber nachts nicht gut schlafe und oft schon mitten in der Nacht vor Schmerzen nicht liegen kann. Das zehrt an den Kräften. Ich hoffe, das bald hinter mir zu haben. Am Samstag sind vier Wochen vergangen.
      Danke für deine fürsorglichen Gedanken und die Genesungswünsche!
      Lieben Gruß,
      Jules

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  4. Der Fernsprecher übertönt den nahen Rufer aus der Wüste der Eitelkeiten. Wer Rufer in der Wüste sein will, sollte sein Rufen ins Schreien wandeln., damit der Hörer das Gefühl hat, Gespräche aus der Ferne zu hören. Kassandra-Rufe waren immer schon Fernsprecher für eine nahe Realität. Nur meine Assoziationskette, die mit deinem Post kaum zwei Cent zu tun hat. Sorry.

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