Nachtwanderung (5) – Ich seh den Sternenhimmel

Hier warten ja zum Glück keine Blechbläser. Man muss auch vergessen können. Wenn man zum Beispiel schöpferisch arbeiten will, darf man sich nicht dauernd mit alten Erinnerungen und Erfahrungen belasten. Dann kann man keine neuen gedanklichen Wege gehen. Eine Romantisierung der Vergangenheit liegt mir sowieso fern. Als Kind fand ich im Liboriusblatt eine Bastelanleitung für eine Sternenhimmel- Beobachtungsstation. Ich hab sie eifrig nachgebaut, doch irgendwie fehlte in der Anleitung das Wichtigste. Wie kriege ich den Sternenhimmel in meine Beobachtungsstation gespiegelt? Ich habe das ganze Liboriusblatt abgesucht, ob sie vielleicht die Seiten vertauscht hätten und die Anleitung noch irgendwo weiter ging. Leider blieb meine Beobachtungsstation unvollendet. Und darüber war ich noch lange Zeit enttäuscht. Wie einfach hingegen kann ein heutiges Kind sich die wunderbarsten Weltraumbilder im Internet angucken.

Du hast Recht. Wenn wir jetzt in den Sternenhimmel schauen, kann uns das Internet gestohlen bleiben. Von unten auf dem Bahndamm aus gesehen ist der Sternenhimmel kein astronomischer Untersuchungsgegenstand, sondern eine unermesslich hohe Halle, in der ferne Lichter funkeln. So einsam und mausklein unterm Himmelszelt packt einen die Ehrfurcht vor den Dimensionen. Man muss nur lange genug hoch schauen.

Am 12. April 1961 wurde der sowjetische Kosmonaut Juri Alexejewitsch Gagarin als erster Mensch ins Weltall geschossen. Er hat dort oben auch nach dem lieben Gott Ausschau gehalten und später gesagt, er hätt ihn nicht gesehen. Seither hoffen ja manche, dass dann wenigstens Außerirdische die Erde umkreisen mögen, ein waches Auge auf alles haben und gegebenenfalls herunter kommen, um die Fehler ausmerzen, die der Mensch begangen hat.

Wir sind jetzt auf der Höhe von Frixheim. In Frixheim hat man keinen Kirchturm, darum können wir das kleine Dorf nicht sehen. Hier ist der Bahndamm breit genug, dass ein Ufo gut landen könnte.

Ein Brausen in der Luft, sphärisches Sirren und irrwitziges Lichterspiel. Wir halten uns die Ohren und stehen starr vor Staunen. Da holt man uns auch schon über eine Rampe herein, wir „passieren mehrere Walzen und tauchen in Säure. Dann kommen wir mit einigen Leichen in nähere Berührung.“ Nachdem man unsere geistige Struktur untersucht hat, kriegen wir den großen Raddada zu sehen. Der schickt uns wieder in die Welt zurück mit der Weisung: „Malen Sie Flamingos!“

Du wunderst dich? Ja, wissen wir denn, welche Wertvorstellungen Außerirdische haben? Dem Maler Sigmar Polke ist es jedenfalls so ergangen. Zuerst haben ihm höhere Wesen befohlen, bei einem Bild die obere Ecke rechts schwarz zu malen, dann haben sie ihm gesagt: Malen Sie Flamingos! Vielleicht finden die fürsorglichen Außerirdischen es am besten, wenn die Menschen den ganzen Tag Flamingos malen. Dann würden der Welt die anderen Untaten erspart bleiben.

Demnächst: Flamingo-Tag im Teestübchen
Zeichne, male, fotografiere, sticke Flamingos, finde Fotos im Internet (Vorsicht: Urheberrecht, darum obere rechte Ecke schwarz malen, dann ist das Bild ein Kunstwerk).

Und jetzt: Vom Strategischen Bahndamm zum Bett ist es nur die Ecke rum. Ich bin unfassbar müde. Morgen will ich die Kommentare in Ruhe lesen, antworten und noch einiges verbessern an unserem Internet-Gesamtkunstwerk. Schön, dass du mitgekommen bist.
Gute Nacht.

20 Kommentare zu “Nachtwanderung (5) – Ich seh den Sternenhimmel

  1. Lieber Jules,
    Danke schön für die unterhaltsame und wie immer lesenswerte Wanderung.
    Kräftemäßig könnte ich wohl noch weiterlaufen, doch soll es für heute gut sein.
    Das ist das Schöne an einer virtuellen Wanderung: die Füße bleiben jederzeit warm, es kann theoretisch junge Hunde regnen, man bleibt dennoch trocken und das Gespräch plätschert munter dahin wie der Murmelbach. Auch bei uns hier gibt es eine alte Trasse, die Dalke-Trasse. Wildromantisch, die bin ich mal mit dem Rennrad abgeradelt. Hätte ewig so weiterfahren können.
    Auf alten Bahndämmen und Trassen kommen alte Zeiten nah. Die Natur erobert sich ihr Terrain zurück, schafft neue Lebensräume.
    Haben diese Orte vielleicht auch deshalb so etwas Tröstliches, gleichzeitig schnuppern sie noch nach dem Abenteuer, von zu Hause abhauen, nach Erkundungsgängen und nach viel Zeit um herumzustromern und Geschichten zu erleben.
    Ein Mark-Twain-Gefühl.
    Fein. Danke und ich wünsche uns gleich geruhsames Flamingozählen…
    kann… kaum noch was sehen….
    …überall drängeln sich rosa Flamingos….au weia….

    und gutnacht
    Schlaf schön…
    wünscht die Fee

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  2. Die Sache mit der Leiche und der Säure verdränge ich schnell wieder. Mag sein, das Funkeln der Sterne hatte etwas so Hyypnotisches, dass ich im Stehen eingedöst bin? Dieses Ufo kann doch nur ein Traum gewesen sein? Welch ein sonderbarer Sternenhimmel … immer noch. Es kribbelt verwegen auf meiner Kopfhaut. Ist es der sachte Wind, der im Schutz der Dunkelheit nach meinen Haaren greift, um mich durch die Haarspitzen hindurch bis tief in mich hinein zu verwirren? Oder kreisen verliebte Glühwürmchen im Dreivierteltakt tanzend um meinen Scheitelpunkt? Schnelller und schneller, immer weitere Kreise ziehend. So muss es sein, bin jetzt umgeben von heiligem Schein. Da kann die schwarze Ecke nur mein Schatten sein. In diesen ich nun verschwinde, um so viel Flamingos zu malen, wie Sterne am Himmel stehen. *schnarch*

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    • Ja, schade, liebe Marianne. Ich bedauere, dass mir die Zeit fehlte, dich in die bereits bestehende Gruppe der Wanderer zu integrieren. Ich danke dir recht herzlich fürs engagierte Mitmachen, für deine lebendigen Kommentare und auch für dein Lob der Musik und wünsche dir einen schönen Tag – Jules

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  3. Der strategische Bahndamm bekam Konkurrenz. Statt dass nur zwei Räder parallel auf Eisenbarren dahin rollten, erlaubte die Konkurrenz zweimal vier Räder parallel gegensätzlich zu rollen. Die Hansalinie zog ihren Strich durch die Landschaft und auf ihr gingen all die motorisierten Willigen. Eines Nachts sah ich über ihr den Hale-Bopp ziehen. So sollen drei Weise sich gefühlt haben, als sie einem Schriftsteller erzählten, dass sie beim Kamelritt vor Staunen von deren Kamele fielen und offensichtliche ein Helikopterelternpaar vom Stall gegenüber jenen dreien wegen Ruhestörung, Erschrecken deren Säuglings und sinnbefreiter Himmelsguckerei zur Strafe Gold, Weihrauch und Myrrhe abnahmen.
    Ich bastelte eine Nachführeinrichtung zum Fotografieren des Sternenhimmels mit Langzeitbelichtung. Ich schaffte es mit Sperrholz, Scharnier, Leim und Schraube etwas aufzubauen, welches die Strichlängen der Sterne auf dem Kleinbildfilm halbierte. Aber es war nicht perfekt. Kein Ufo kam und schenkte mir perfekte Sternenhimmelbilder. Die machte ich später mit Stativ und meiner Revueflex AC2 selber. Meine Wertvorstellung der Fotos war immer eigen. Manche äußerten sich bewundert darüber, andere nannten mich einfach bekloppt, im Winter in der Kälte Sternenbilder hinter her zu jagen. Meine Wertvorstellung ging über die Fotografie hinaus und meine Moralvorstellung ist sicherlich nicht gesellschaftsmehrheitsfähig. Sehr oft habe ich auch das Gefühl, dass sie nicht terrakompatibel ist. Aber ich bin anpassungsfähig und muss sie nicht darstellen. Ich muss sie nur leben. Schädlich sind sie nicht, aber sie führen zur Entrüstung und zur Kainsmalmarkierung für mich, was mir widerum nicht gefällt. Meine Moral ist mein strategischer Bahndamm.Links und rechts vom Bahndamm kann ich mich verstecken, wenn der Wind mir zu sehr bläst. Und manchmal passen mir die Leute links davon, manchmal rechts davon, und wenn alles nicht passt, dann stehe ich auf meinem Bahndamm lass mich durchblasen und schau in die Ferne hinein und glaube zerschossene Lokomotiven auszumachen. Zumindest sehe ich keine, welche mir den Platz auf dem Bahndamm streitig machen mag. Aber das ist trügerisch. Lokomotiven sind heutzutage windschnittiger, schneller, leiser und ganz schnell entgegenkommend. Und nach solch einer Begegnung wünscht man sich immer, nicht Zug bekommen zu haben, sondern eher ne Weiche statt ne harte Tour erlebt zu haben …
    Gute Nacht dir ebenso ,,,

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    • Lieber Franz, danke für deine Schilderungen hier und unter den einzelnen Beiträgen. Sie erweitern den Basistext an vielen Stellen um deine persönlichen Erfahrungen, Statements und um dein Wissen um westfälische Heimatkunde. Hale Bob, ich habe in einem Tagebuch von April 1997 das gefunden:

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  4. Pingback: Nachtwanderung (4) – Speichermedien

  5. Pingback: Die digitale Nachtwanderung zum Nachwandern

  6. Lieber Jules,
    Ich bedauere sehr dass ich doch erst alles nachträglich lesen konnte. An vielen Stellen hätte ich gerne meinen Senf dazugegeben oder einfach nur das gemeinsame Wandern genossen. Es ist tatsächlich ein tolles Projekt, und an den Kommentaren sieht man dass die Nacht ihre verbindende Wirkung entfaltet hat.
    So bleibt mir nur euch wie dem verpassten Zug hinterher zu schauen… Übrigens hatte ich erstmal vermutet, der strategische Bahndamm sei eine pataphysische Schöpfung 😉
    Danke für den Ausflug zum nachlesen und entschuldige bitte, dass ich mein Versprechen dabei zu sein nicht einlösen konnte.
    Ganz herzliche Grüße, Anna

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