Abfallwirtschaft, Nichtorte und prollige Regungen

Als Hannoveraner Neubürger bekam ich bei der Anmeldung ein Begrüßungspaket geschenkt. Das enthielt eine Hochglanzbroschüre vom „Zweckverband Abfallwirtschaft Region Hannover“ (aha), eine Rolle gelber Säcke vom Dualen System und einen Abfallabholkalender. Da wusste ich sofort, in Hannover wird Müll geschätzt. Man kriegt ihn gleich zur Begrüßung. Damals war das Entsorgen von sperrigen Verpackungen, Elektroschrott und dergleichen ganz leicht. Ich schleppte den Müll einfach die Straße entlang, überquerte die Davenstedter Straße und hatte schon vor mir den aha-Betriebshof mit diversen Containern, deren Mäuler hungrig geöffnet waren. Wo ich früher den Müll entsorgt habe, darf ich heute nur noch meine Wählerstimme abgegeben. Was das über den Wert meiner Wahlentscheidung sagt, wäre zu reflektieren. Anfangs war das Wahllokal in einer kleinen Baracke. Sie wurde vor einigen Jahren durch ein neues Bürogebäude der Abfallwirtschaft ersetzt, wo ich immer noch wählen darf, die Container sind aber weg. Sie stehen jetzt irgendwo weit draußen hinter dem Lindener Hafen. Auch die Glascontainer in meiner Nachbarschaft wurden abgebaut und benutzerfreundlich weiter draußen aufgestellt.

Bei schönstem Oktoberwetter habe ich mir leere Weinflaschen in einen alten Rucksack gepackt und bin in lauer Luft und mit leichtem Rückenwind zweimal zu den Containern geradelt, um Glas loszuwerden. Die Container stehen auf einem großen Platz hinter Getränkemarkt und einem Betten- und Sofa-Outlet. Es gibt Fahrstraßen zu deren Rückfronten, zudem weiter hinten einen schmucklosen mehrstöckigen Gebäudeklotz gegenüber den Verladerampen eines Schuhdiscounters und eines Supermarktes, in denen vielleicht verhuschte Menschen dubiosen Beschäftigungen nachgehen. Das trostlose Gebäude mit seinen beinah erblindeten Fenstern könnte aber auch leer stehen, und nur einer vom Wachdienst kommt ab und zu her und scheucht mit seiner Taschenlampe ein paar Kakerlaken auf. Die ganze Szenerie ist ein typischer Nichtort, eine soziale Brache, im hellen Sonnenlicht zwar befremdlich, aber niemand bei Trost würde sich nach Einbruch der Dunkelheit hinbegeben. Surreal war auch die stämmige Frau, die neue Matratzen auf einem Hubwagen aufgestapelt hatte und ins rückwärtige Gebäude fuhr. In dieser Ladezone lehnten noch in Folie gehüllte Matratzen abwartend an einem Container. An diesem Nichtort scheint es mir fast legitim, herumlungernde Matratzen zu klauen, ja, würden sie hübsch drapiert im Verkaufsraum liegen und hätten ein heischendes Preisschild, wäre es was anderes.

Ich rolle im Bogen über den Platz und halte bei den drei Containern der Kleidersammlung, um den Glassplittern zu entgehen, die weiträumig vor der langen Reihe der Glascontainer liegen. Nichtorte locken asoziale Neigungen hervor. Vor dem Container für Grünglas hat jemand einen Haufen Kinderbücher entsorgt. Warum? Plötzlich kein Kind mehr im Haus? Wurde ein Leseverbot verhängt oder Schlimmeres? „Wenn du nicht brav bist, werfen wir deine liebsten Bücher zum Altglas!“

Ein Buch lacht mich an: Edgar Allan Poe „Der Goldkäfer und andere phantastische Geschichten.“ Ich besitze die 10-bändige Poe-Gesamtausgabe im Schuber, übersetzt von Hans Wollschläger und Arno Schmidt. Trotzdem nehme ich das Buch mit, weil es eine gebundene Ausgabe ist und zu schade für den Müll. Sie stammt vom Kinderbuchverlag Berlin. Das Buch ist also eine DDR-Produktion. Das Inhaltsverzeichnis finde ich nach langem Suchen ganz hinten*, ich kann also nicht auf Anhieb sehen, welche Texte von Poe man in der DDR für Kinderliteratur gehalten hat. Hinten hat das Buch ein Glossar, in dem Begriffe erklärt werden, die ein Kind vermutlich nicht kennt. Wir haben es mit einem didaktischen Werk zu tun. Hier wird über spannende Erzählungen Allgemeinwissen vermittelt. Mit einem solchen Glossar wird Poe zum Lehrmeister. Es war nicht alles schlecht in der DDR. Um die Qualität der Übersetzung zu vergleichen, habe ich jeweils die erste Seite der bekannten Erzählung „The Fall of the House of Usher“ gescannt, Wollschläger/Schmidt versus ungenannter DDR-Übersetzer. Eingangs der Originaltext [mit Dank an Feldlilie für den Nachweis].


*) Über die blöde Attitüde, das Inhaltsverzeichnis an den Schluss eines Buches zu setzten, möchte ich mich mal aufregen. Meine zehnbändige Poe-Gesamtausgabe hat auch das Inhaltsverzeichnis hinten im 10. Band. Das ist disfunktional und vielleicht von den Papyrusrollen der Antike ohne Sinn und Verstand übernommen worden. Papyrusrollen hatten Titel und Inhaltsverzeichnis sinnvoller Weise am Schluss, denn der Leser fand die Buchrollen immer bis zum Schluss gerollt vor. Aber im Buch ist das großer Blödsinn, meine Damen und Herren Verleger! In der sozialen Brache hätte ich gute Lust, ein paar Watschen zu verteilen. Aber ich mache es natürlich nicht, denn sitze inzwischen wieder manierlich zu Hause.

15 Kommentare zu “Abfallwirtschaft, Nichtorte und prollige Regungen

  1. Ich tendiere nicht ganz vorbehaltlos der anderen gegenüber zur namenlosen DDR-Übersetzung. Das könnte wahrscheinlich schon mit dem Titel der Geschichte zusammenhängen, denn die „Eigennamenübersetzung“ von Wollschläger/Schmidt finde ich alles andere als gelungen. Vielleicht beschreibt auch die Vokabel „Untergang“ die Umstände der Geschichte treffender, denn mit einem „Fall“ kann mehr gemeint sein; dies käme jedoch auf den Inhalt der Geschichte an, den ich als Banause, der über eben jene Schuberausgabe ebenfalls verfügt, gar nicht kenne, weil ich die Geschichte bislang nicht gelesen habe. Ich bitte meine Unkenntnis und daraus resultierende Gefühlsdusselei zu entschuldigen;)

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    • Ich stimme dir zu, denn mich stört schon das Arno Schmidtsche &-zeichen statt „und. “ Mir scheint die DDR-Übersetzung stimmungsvoller. Sie vermittelt ein eindringlicheres Bild, wohingegen Wollschläger/Schmidt vielleicht näher an der Diktion des amerikanischen Englisch des 19. Jahrhunderts sind. Die Übersetzung des Eigennamens gefällt mir auch nicht, da die Ushers ein englisches Adelsgeschlecht sind und die Geschichte dort angesiedelt ist. Zudem bringt das deutsch anmutende Ascher Konnotationen ins Spiel, die den Vorgängen nicht angemessen sind, denn das Gebäude verbrennt nicht, sondern zerbirst. Der Titel lautet im Original: „The Fall of the House of Usher“, und gemeint ist das ganze Geschlecht der Usher, deren letzte Nachfahren ein Geschwisterpaar ist sowie der Einsturz des Stammsitzes. Hier noch die Übersetzung von Gisela Etzel aus dem Jahr 1909.
      http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-untergang-des-hauses-usher-7205/2

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    • In meiner Jugend wurde Poe als Verfasser von Gruselerzählungen verschlissen. Allenfalls galt er mit „Der stibitzte Brief“ und „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ als Begründer der Kriminalgeschichte. In seinem Gesamtwerk finden sich darüber hinaus wunderbar scharfsinnige Essays und Kritiken. So hat er nur anhand der Beschreibung von Kempelens mechanischem Schachspieler https://de.wikipedia.org/wiki/Schacht%C3%BCrke nachgewiesen, dass es ein Betrug war. Auch seine Abhandlung über Kryptographie ist stark. Offenbar haben Alkohol und Drogen seinen Verstand nicht getrübt.

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  2. Nichtorte sind faszinierend. Bei Tageslicht, nachts mache ich einen Bogen um sie, weil ich mit tagsüber zu viel vorgestellt habe.
    Das Buch hätte ich auch mitgenommen. Dieses öffentlich weggeben von Büchern gibt es immer öfter. Ich mag es.
    Warum aber Recycling gefordert wird und die Container immer öfter zu Fuß nicht erreichbar sind verstehe ich nicht.

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    • Ein Freund und Kollege von mir war zur Wendzeit in Ostberlin und berichtete, dass die Leute dort ihre DDR-Literatur auf Müllhaufen geworfen hätten. Er rettete für mich den zuletzt gedruckten Leipziger Duden. Der ist mir sehr lieb.
      Dass man uns Recycling immer schwerer macht, ist wirklich ein Unding. Wer nicht mehr so mobil ist, kann doch nicht zwei Kilometer zum Container laufen.

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