Zu viele Dinge in der Welt, zu viel Information. Ich wollte einen Pullover, habe aber einen Wasserkocher gekauft. 5000 Seiten Gebrauchsanleitung in allen Weltsprachen. Dabei ist das Gerät nicht etwa die technische Variante einer Eier legenden Wollmilchsau, sondern kocht nur Wasser. Meine Gebrauchsanleitungsbibliothek füllt eine ganze Kommodenschublade, und fast alles davon ist noch ungelesen. Nur einmal, als ich während meiner Lesereise bei einer Essener Freundin im Garten gelesen habe, da habe ich spät in der Nacht noch die Anleitung für meinen neuen mp3-Player in allen Weltsprachen vorgelesen; aber das ist ein Versehen gewesen. Bei Kerzenlicht kann man sich schon mal vergreifen. Zum Glück ist es nicht aufgefallen, ja, von allen Texten bekam die Bedienungsanleitung den meisten Beifall. Sogar aus dem Fenster des Nachbarhauses wurde applaudiert, und ein Mann rief: „Danke, du Tünnes, jetzt weiß ich das auch!“
Für die erfolgreiche Benutzung eines Wasserkochers ist die Lektüre der Bedienungsanleitung nicht unbedingt erforderlich, sondern eher hinderlich, denn ich will ja jetzt heißes Wasser und nicht erst in fünf Stunden. Tatsächlich ist nicht einmal gesagt, dass ich den Wasserkocher besser zu bedienen lerne, wenn ich die Gebrauchsanweisung studiere. Bei den meisten Geräten reicht dem Nutzer das Weltwissen, das er sich im Laufe seines Lebens angeeignet hat gepaart mit der Technik Versuch und Irrtum. Generell ist die genaue sprachliche Beschreibung nicht so leistungsfähig wie man glauben könnte. Eine Aufbauanleitung für ein Möbelstück beispielsweise wäre sprachlich kaum zu vermitteln. Hier sind Schaubilder mit den einzelnen Aufbauphasen hilfreicher.
Wenn man zum Beispiel ein Ereignis oder ein Bild digitalisiert, dann setzt man einer fließenden komplexen Wirklichkeit eine grobe Struktur gegenüber. Anders: Man nimmt über ein Netzwerk die Information ja oder nein ab. Eine Kurve lässt sich mit Hilfe von Punkten beschreiben (grün). Ich könnte sie auch anders interpunktieren ( rot). In beiden Fällen vermittelt sich das Bild der Kurve. Nur eine vergleichende Überprüfung bringt an den Tag, dass die gleiche Kurve auf unterschiedliche Weise dargestellt ist. Ist die zugrunde liegende Struktur zu fein für das menschliche Auge, dann bilden sowohl die grünen wie die roten Punkte die Kurve scheinbar 1:1 ab. So wäre die unterschiedliche Interpunktion von grün und rot nicht mehr zu erkennen.
Ähnliches geschieht bei der Zerlegung eines Bildes in Rasterpunkte im Reproverfahren. Wenn man mehrere Aufnahmen macht und dabei das Raster jeweils um einige Grad dreht, einmal um die Achse, sieht ein unbefangener Betrachter bei jeder Einzelaufnahme das gleiche, nicht jedoch das selbe Bild, wie er glaubt zu sehen. Legt man nur zwei solcher Filme übereinander, erhält man einen Moiré-Effekt. Alle Bilder übereinander ergeben nur noch schwarz. Die Bildinformation ist verschwunden. Hier zeigt sich, dass sich eine Information nur wahrnehmen lässt, wenn sie ausgedünnt ist. Die Information muss ausgedünnt sein, damit der Mensch sie verwerten kann. Der Verfeinerung der Wahrnehmungsstrukturen sind also Grenzen gesetzt.
Der Mensch eignet sich die komplexe Welt über die Wahrnehmungsstruktur Sprache an. Dass die Wörter der Sprache wie grobe Punkte sind, mit deren Hilfe wir die Wirklichkeit erfassen, ist uns bei der Sprachverwendung selten bewusst. Wir neigen dazu, die sprachliche Erfassung mit der Wirklichkeit gleichzusetzen. Eine Verfeinerung der Sprachstruktur brächte jedoch keine genauere Wirklichkeitserfassung. Wenn wir an einer Stelle verfeinern, müssen wir an einer anderen Stelle vergröbern, damit Gesamtmenge der Information das menschliche Maß nicht überschreitet.
Was ist Fingerkuppenkräuselkrause? Ich bekomme sie, wenn ich bestimmte Textilien berühre. Denn da nehme ich das Textil nicht mehr als eventuell tragbar wahr, sondern es vermittelt sich mir nur eine Information: „Ich war einmal ein Joghurtbecher.“
Ich gebe zu, ich lese sehr ungern Gebrauchsanweisungen. Gegen die Fingerkuppenverrenkungen bei der Pulloversuche könnten auch Selbststrickversuche helfen. Falls die zu fingerlichen Kräuselungen führen, ist das wärmende Ziel vielleicht klarer. Ja, ich bin alt genug, mich noch an strickende Männer zu entsinnen,
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Oja! Ich konnte als Kind stricken, leider nur rechtsrum, weshalb sich der Schal für mein Bärchen wie ein Korkenzieher drehte. Heute fehlt mir garantiert auch dafür das Geschick.
Über Stricken: https://trittenheim.wordpress.com/2015/09/29/ein-bloeder-untertitel-und-was-bestrickendes/
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Anleitungen lese ich nur gern, wenn sie von künstlicher Intelligenz übersetzt wurden. Die besten Ergebnisse gab es beim Ausgangspunkt Japanisch über Englisch ins Deutsche. Leider sind diese hübschen Stilblüten einer Aufräumarbeiten zum Opfer gefallen..
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Gefährliche Aufräumarbeiten! Schade. Stattdessen hat Titanic seit Jahren die Rubik Translation poll, wo derlei Stilblüten gesammelt sind
http://www.titanic-magazin.de/news/translation-poll-online-1814/
(Wenn die Bezahlschranke runtergeht, klicke einfach auf „Später, ich möchte weiterlesen“)
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Danke für den Link!
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Vielleicht ist ja die Gesamtmenge des dem Menschen möglichen Maßes noch nicht erreicht? Ich finde, an einer Verfeinerung der Sprachstrukturen zu arbeiten, lohnt immer.
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Ich bin vom sogenannten „idealen Sprecher und Schreiber“ ausgegangen, dessen sprachliche Möglichkeiten optimal entwickelt sind. Bei den meisten ist in dieser Hinsicht noch viel Luft nach oben, weshalb ich dir zustimme. Allerdings weißt du als Zeichner auch, dass eine einzige gelungene Körperlinie sprachlich nicht zu fassen ist. Selbst großer sprachlicher Aufwand würde kein Bild vermitteln.
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Ich oute mich mal. Ich liebe, Anleitungen zu lesen. Es ist wie ein Rätsel, das man lösen kann. Ausserdem effektiver als Versuch und Irrtum. Dieses Verhalten hat mir aber auch den Vorwurf eingebracht, ich könnte nicht dreidimensional denken. 😉
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Finde ich gut. Bei meinem Ältesten bewundere ich ebenfalls die Sorgfalt, in der er Anleitungen liest, beispielsweise bei allem was mit IT zu tun hat. Ich bringe die Geduld nicht auf, was sich manchmal als ungünstigt erweist.
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Gebrauchsanweisungen sind mir zuwider. Entweder steht nichts Wissenswertes darin oder ich verstehe sie nicht.
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Nicht nur darin sind wir uns ähnlich. 😉
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🙂
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Man darf nicht vergessen, dass in der Gebrauchsanweisung für einen Wasserkocher oftmals mehr Literatur drinnen steckt als beispielsweise in der Gesamtausgabe aller Werke eines Franz Grillparzers … 😉
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Von Franz Grillparzer kenne ich nicht viel, aber du als Österreicher, Herr Ösi, wirst wissen, wie es um sein Gesamtwerk bestellt ist, Wahr ist, dass er die Anleitung für meinen Wasserkocher nie hätte auch nur ansatzweise schreiben können.
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Wir mussten ihn lesen, ob wir wollten oder nicht. Es ist der Grund, weshalb ich jede beliebige Gebrauchsanweisung Grillparzer vorziehe …
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