Franz, Karl-Heinz, Theo und ich saßen bei Franz zu Hause im Wohnzimmer über dem Jugendherbergsverzeichnis, einer Deutschlandkarte und einem Notizblock und planten unsere Radtour aus dem Rheinland bei Köln zum Bodensee. Wir waren 16 Jahre alt. Aus dem Plattenspieler sang Nancy Sinatra „These Boots Are Made for Walkin'“ Leider konnte Franzens Vater uns nicht in Ruhe lassen und berichtete zum xten Mal von der Radtour, die er mit einem gewissen Jupp unternommen hatte. Jupp wurde vom Heimweh überwältigt und fing bereits an der nahen Bahnschranke zu heulen an, war nicht mehr zu trösten gewesen, so dass die großartigste Radtour des Jahrzehnts schon nach zwei Kilometern enden musste. „Ach, lass uns doch in Ruhe mit Berichten aus deiner Jugend“, dachte ich, „jetzt sind wir jung und planen unseren Aufbruch in die Welt.“ Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen, aber dieses Gestern umfasst doch ein halbes Jahrhundert und ist nur geschrumpft, damits noch in meinen Kopf passt.
Heute würde ich gerne Abbitte leisten, aber Franzens Vater ist vermutlich nicht mehr. Heute weiß ich wie lustvoll es ist, eigene Jugenderinnerungen abzurollen, wenn man alt ist. Und selbst wenn man spürt, dass junge Menschen derlei Erzählungen nicht hören wollen, man will sie dem unwilligen Auditorium zum Trotz doch noch loswerden. Erzählen ist nicht nur das Entfalten einer geschrumpften und eingetrockneten Erinnerung, sondern ein wenig ist es auch Wiedererleben, als würde die geschrumpelte Erinnerung, von neuem Lebenssaft getränkt, wieder geschmeidig und ließe sich abrollen zum Lebensstrang. Gleichsam rieseln Glückshormone durch die Adern, und man möchte glauben, die Zeit wäre zurückzudrehen.
Noch mal zum Anfang: Vom Jungsein zum Altsein ist’s nur ein Katzensprung, was aber nur erkennt, wer den Hupfer schon gemacht hat. Dass die Erfahrungen der Alten in unserer Welt nichts gelten, ist ein Effekt der Schrift. In schriftlosen Kulturen sind die Alten die Bibliothek, was deutlich wird im oft zitierten Bonmot des malischen Autors Amadou Hampaté Bâ: „Mit jedem Greis, der in Afrika stirbt, verbrennt eine ganze Bibliothek.“
Schriftgebrauch geht einher mit der Abwertung der Alten. Sie werden jetzt nicht mehr als kollektives Gedächtnis gebraucht. Schriftliche Aufzeichnungen bieten ein vergleichendes System, das den Schwächen der menschlichen Erinnerung nicht zu unterliegen scheint. Zwar warnt schon Platon, dass die Schrift nur „Scheinweise“ hervorbringe, aber das ist egal in einer Zeit, die Scheinweisheit nicht hinterfragt.
Als der isländische Skalde Egil im hohen Alter mit einem Freund über den Markt ging und stolperte, lachten ihn einige junge Frauen aus. Egil sagte: „Minder verhöhnten uns die Weiber, als wir noch jung waren.“
Ich finde tröstlich, dass die jungen Weiber, die damals über Egils Ungeschicklichkeit lachten, ebenfalls längst verröchelt sind. Vor der Zeit sind alle gleich. Wenn es mich überkommt, mit meinem Lebensalter zu hadern, sage ich mir, dass ich in keinem Augenblick so jung bin wie in diesem. Um ihn mies zu machen, ist der Augenblick zu kostbar.
Dazu fällt mir ein, dass ich mit nem Freund zum Bodensee getrampt bin und mit zwei Freunden ne Radtour von der Londoner Victoria Station über Brighton, Stonehenge, Southampton, Oxford gemacht hab. Übernachtungen immer in Jugendherbergen und jeden Abend ins Kino gegangen, immer zwei Filme hintereinander.
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Müsste beides so um 1966 gewesen sein, bin Jahrgang 1951.
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Dann sind wir etwa gleich alt, auch unsere Fahrt fand 1966 statt. Im Kino waren wir nie.
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Lieber Jules,
ich werde gleich in meinen imaginären Keller gehen, um einen schön passenden Rahmen für Deinen Satz, der mit „Erzählen ist nicht nur das Entfalten einer geschrumpften und eingetrockneten Erinnerung….“ zu finden, um ihn gebührend einzurahmen.
Liebe Grüße von Greis zu Greis
😉
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Der Vollständigkeit halber liefere ich noch das fehlende „beginnt,“ nach.
😉
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Du weißt sicher, dass das Wort Greis für alter Mensch vom mittelhochdeutschen grīse abstammt, was nicht anderes als Grau bedeutet, heute aber eher Hinfälligkeit meint. Es gilt sicher, worauf der Dilettant hinweist, dass Alte heute geistig wesentlich jünger sind als noch vor, er sagt 100, ich meine 50 Jahren. Nur die Haare strafen uns Lügen. Freut mich, dass mein Endlossatz dir gefällt. Ich müssteihn eigentlich entzerren, dann wüsste ich auch, wo dein „beginnt“ hingehört 😉
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Vor: ……….., zu finden, um ihn gebührend einzurahmen.;-)
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Ich denk‘ ja oft: nochmal jung sein, aber mit dem Bewusstsein des Alters. Natürlich ein Wiederspruch in sich, aber eben doch verlockend. Der Versuch, dies überindividuell von einer Generation zur nächsten zu realisieren, also die Jungen mit den Erfahrungen der Alten zu „beglücken“, ist aber genauso zu Scheitern verurteilt. Wer als junger Mensch auf die Alten zu viel hörte, wäre eben im Geiste schon nicht mehr jung, bzw. brächte sich um den Spaß am Jungsein. Immerhin soviel Trost: heute dürfen wir Älteren viel länger Jung sein, die Gesellschaft fordert es geradezu von uns. Ich will gar nicht wissen, wie ich in meinem Alter vor 100 Jahren ausgesehen hätte. Wahrscheinlich wie mein eigener Opa jetzt aussähe 😉
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Da mein Vater schon früh gestorben ist, habe ich vermisst, dass er mir zeigen konnte, wie man sich rasiert. Ich habs nie richtig gelernt vom Alten 😉 Will sagen, einiges lässt sich von der älteren auf die jüngere Generation weitergeben, aber das meiste ist schwer zu adaptieren in einer Welt, die sich so rasch wandelt. So lange man sich im vorgerückten Alter noch auf Neues einstellen kann, ist das Opa-sein aufgeschoben.
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Ich sehe es als einen erworbenen Titel an, Oma genannt zu werden. Ich fühle mich dadurch nicht älter, höchstens zeitlich eingeschränkt.
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Ich habe leider bei vielen älteren Menschen festgestellt, dass sie viel zu früh von ihren Erlebnissen lebten. Denn das ist es ja letztendlich. Man teilt, was man für besonders in seinem Leben empfunden hat. Als Alter Mensch sollte man Erfahrungen machen, so lange es geht. Das ist das Leben überhaupt. Das ist meine Meinung.
Ich finde es auch schade, dass ich früher zu jung/arrogant/unwissend war, meinem Opa mehr zuzuhören. Die Chance ist unwiederbringlich vertan.
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Erinnerst du dich an diesen Text, liebe Ann? Da wird thematisiert, was du sagst.
https://trittenheim.wordpress.com/2016/10/26/retro-total-oder-ueber-die-bald-moegliche-simultanitaet-der-zeiten-und-wie-sie-das-ende-der-menschheit-bringt/
Deinen letzten Satz kann ich nur unterstreichen. Wie mein älterer Bruder mal bedauernd sagte: „Jetzt können wir sie nicht mehr fragen.“
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Es geht leider so viel Wissen verloren, wie Du auch beschrieben hast.
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Ich mag die Erzählungen von Alten. Ein wenig gehöre ich ja auch schon dazu 😉
Gemessen am Familiennachwuchs jedenfalls.
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Im Grunde ist es nur das Äußere. Im Kopf immer noch 16 1/2.
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