Vom Himmelsbrief zum Hermann-Kuchen – Kurze Geschichte des Kettenbriefs

HIMMELSBRIEF, der, göttliche Luftpost, Offenbarung, die vom Himmel gefallen ist. Einen Himmelsbrief besaß auch Aldebert aus Gallien, der schon zu Lebzeiten im 8. Jh. vom Volk als Heiliger verehrt wurde, den der Hl. Bonifatius aber einen „betrügerischen Geistlichen, Irrlehrer, Schismatiker, Diener des Satans und Vorläufer des Antichrists“ nannte. Aldebert, dem besonders viele Frauen nachliefen, dessen Nägel und Haare von seinen Anhängern als Heiligtümer verteilt wurden, verfügte über ein Schreiben von Jesus Christus, das in Jerusalem vom Himmel gefallen und vom Erzengel Michael aufgehoben worden sei.

Text der Admonitio generalis von 789 in einer Handschrift des späten 9. Jahrhunderts aus Saint-Remi (Paris, Bibliothèque Nationale de France, lat. 10758, fol. 50r) – via Wikipedia

Gegen falsche und verderbliche Himmelsbriefe mit angeblich göttlichen Weisungen wendet sich schon Karl der Große in seiner Admonitio generalis (Allgemeinen Ermahnung) von 789. Solche Werke sollten nicht gelesen, sondern verbrannt werden, damit sie das Volk nicht mit Lug und Trug bedecken. Zu den von Kaiser Karl verdammten Himmelsbriefen gehört auch der „Himmelsbrief Christi über die Heilighaltung des Sonntags“. Er ist gegen Ende des 6. Jahrhunderts erstmals urkundlich erwähnt und bis ins 20. Jahrhundert belegt. Angeblich wurde er in Jerusalem am Effrem-Tor gefunden und von Hand zu Hand weitergereicht, bis er nach Rom kam. Er droht die Vernichtung der Menschheit für den kommenden November an, wenn nicht endlich die Sonntagsruhe eingehalten werde. Er sei die dritte und letzte Warnung. Jeder Priester, der die Warnung erhalte, sei verpflichtet, sie abzuschreiben und weiterzuverbreiten. Dieser Nachsatz macht den Himmelsbrief zum frühen Kettenbrief. Der Kettenbrief ist also religiösen Ursprungs, weiß auch der Schweizer Volkskundler Hans Bächtold-Stäubli im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens und findet den Ursprung im fernen Tibet:

Der Kettenbrief gehört zu den religiösen Mechanisierungen des Gebetes, deren höchste Steigerung in der Gebetsmühle der buddhistischen Tibetaner mit der Formel „Om mani padme hum“ vorliegt. Hier handelt es sich darum, ein kurzes Gebet oder einen harmlosen Spruch durch Versendung zu verbreiten, so dass die Gebetskette nicht unterbrochen wird, womöglich um die Erde herumläuft.


Wie alle religiösen Inhalte im Laufe der Zeit zu unverstandenen Ritualen oder Spielereien absinken, wurde auch der Kettenbrief mit allgemeiner Schreib- und Lesefähigkeit profan. Das Aufkommen des Fotokopiergeräts in den 1970er Jahren vereinfachte die Verbreitung und brachte eine Flut neuer Kettenbriefe. Meist wurde großer Reichtum versprochen. Man wurde aufgefordert Geld an die erste Person auf einer Liste zu schicken, die erste Person zu streichen und sich selbst an die letzte Stelle zu setzen. Dann war der Kettenbrief sieben mal zu fotokopieren und an sieben Personen weiterzureichen. [Briefe 1 u. 2] Formales Merkmal dieser Kettenbriefe war ihre Unleserlichkeit, bedingt durch Fotokopieren und erneut Kopieren von der Kopie. Inhaltliches Merkmal ist neben der Verheißung die Androhung der Strafe, die denjenigen trifft, der die Kette unterbricht. Eine harmlose Variante des Kettenbriefs als lesedidaktisches Instrument bildungsbeflissener Schichten zeigt „Für Bücherwürmer und welche, die es werden wollen“ [Brief 4]. Er wurde mir erst kürzlich durch eine Grundschullehrerin und junge Mutter zugespielt.

In den 1990-er Jahren tauchte ein dubioser Kettenbrief auf, der weder Geld noch Glück versprach, sondern vor LSD in Klebebildchen warnte und auf elterliche Sorge zielte. Die Warnung mit der Überschrift „DROGENGEFAHR FÜR DIE KINDER“ [Brief 3] stammte angeblich von der Abteilung Drogenfahndung der Waadländischen Polizei und schloss mit der Aufforderung, das Schreiben zu fotokopieren und weiterzugeben. So gelangte der Kettenbrief an die Schwarzen Bretter von Schulen und Kindergärten. Eine solche Warnung hing auch am Schwarzen Brett meiner Schule. Sie kam vom Jugenddezernat der Stadt Düren. Im Jahr 1989 titelte die Aachener Volkszeitung (AVZ): „LKA erklärt: Abziehbilder ohne LSD“ und zitierte den damaligen LKA-Chef Helmut Brandt, dass bislang nirgendwo solche mit LSD getränkten Klebebildchen aufgetaucht wären. Die amtliche Warnung sei gefälscht. Im Oktober 1992 titelten die Aachener Nachrichten: „Panikmache per Flugblatt – Polizei dementiert“ und wenig später erneut „Keine Drogengefahr für Kinder durch Abziehbilder.“ Auch in „Die Spinne in der Yuccapalme“, einer populären Sammlung urbaner Sagen von Rolf Wilhelm Brednich ist zu lesen, dass derlei Klebebildchen bislang weltweit nicht aufgetaucht sind. Trotzdem gelangte der LSD-Kettenbrief durch besorgte Eltern immer wieder in Umlauf. Die Dementis halfen nicht, weil die Menschen die angedrohte Gefahr glauben wollten.

Mit dieser menschlichen Schwäche, glauben zu wollen, spielen auch digitale Kettenbriefe, wie sie derzeit über WhatsApp verbreitet werden, deren heftigste Variante der gefürchtete „Momo-Kettenbrief“ ist. Was in der Samia-Nachricht [Abb 2] noch umschrieben ist („Ich sehe meger meger Gruselig aus“), unterstreicht der Momo-Kettenbrief durch das Bild einer Gruselpuppe (man google das Bild selbst). Mehr zum Hintergrund beim Kollegen Careca. Die fehlerhafte Orthografie sowie der sprachlich unbeholfene Stil weisen die WhatsApp-Kettenbriefe als kindliche Produkte aus. Kinder erschrecken Kinder. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass erwachsene Trittbrettfahrer hiermit Kontakte zu Kindern suchen.

Ebenfalls den Charakter des Kettenbriefs haben die auf Blogplattformen kursierenden „Stöckchen.“ Inzwischen kommen sie hochtrabend als Awards daher. Das Ziel ist, Bloggerinnen und Blogger größeren Kreisen bekannt zu machen. Obwohl die Awards auf die Eitelkeit der User abstellen, stockt die Verbreitung immer wieder, weil sich viele scheuen, ihre Blogfreunde mit den geforderten Fragen zu belästigen.

Irgendwann in der Antike hat ein zahnloses altes Mütterchen im Kaukasus in einen Sauerteig aus Weizenmehl gerotzt und die Fermentierung in Gang gebracht für einen essbaren Kettenbrief, der bei uns aus unerfindlichen Gründen Hermann heißt. Inzwischen hat sich die Hefekultur leise und weitgehend unbeachtet weltweit verbreitet. Während meiner Zeit als Lehrer sah ich immer wieder Schülerinnen, die gedeckelte Plastikdosen herumtrugen. Darin sei ein Hermann, ein Kuchenteig, erfuhr ich. Den müsse man füttern und pflegen, dann würde er wachsen, so dass man ihn teilen und an gute Freunde weitergeben könne. Eine Schülerin erzählte, schon ihre Mutter habe vor 30 Jahren einen Hermann gehabt, „und wenn man bedenkt, dass da so alte Zutaten drin sind…“ Diese Information erreichte mich zu spät, denn tags zuvor hatte ich schon leichtsinnig ein Stück Hermannkuchen gegessen. Da wurde mir ganz mulmig. Hatte ich mir ein harmloses Stück Weltkuchen einverleibt oder hat eine invasorische Hefekultur auf dem Weg zur Weltherrschaft von meinem Körper Besitz ergriffen?

Mehr über derlei Themen in JvdL; Buchkultur im Abendrot

12 Kommentare zu “Vom Himmelsbrief zum Hermann-Kuchen – Kurze Geschichte des Kettenbriefs

    • Danke für den Link zu deiner witzigen Satire. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Der Kettenbrief ist zu einer Zeit entstanden, in der das Abschreiben die einzige Möglichkeit des Kopierens war. Die Drohung sollte faule Mönche zum Abschreiben antreiben. Die Gegenwart vor dem Internet war vom Fotokopierer und von der Sackpost abhängig. Die deutsche Post hat Kettenbriefaktionen in ihren Bestimmungen verboten wegen der exponentiell ansteigenden Zahl von Postsendungen. Wenn die Kette nicht unterbrochen wird, ist schon bei 7 hoch 7 ein Aufkommen von 823.543 erreicht, 7 hoch 8 bereits 5.764.801. Die digitale Verbreitung hat keinerlei Beschränkungen mehr. So wird das Phänomen in Zukunft vermutlich immer weniger Beachtung finden, denn alles, was leicht zu haben ist, sinkt im Wert. Die Radikalisierungstendenzen und das Absinken in die kindliche Subkultur zeigen das schon an. Ich werte die Radikalisierung als Versuch, der Banalisierung gegenzusteuern. Innerhalb der kindlichen Subkultur hält sich diese Form des Kettenbriefs am längsten, vergleichbar den Horrorgeschichten, die am Lagerfeuer erzählt werden.

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      • Ich meinte mit „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ den Inhalt solcher Kettenbriefe. Wie kann ein Kettenbrief reklamieren, dass er nicht korrekt abgeschrieben wurde, und dann erklären, was mit jenen passierte, die es nicht taten? Daher das Brotmaschinenmassaker. So etwas geht nur, wenn man von der Philosophie der multiplen Zeitlinien ausgeht (dass also lediglich Raum und Energie unabhängige Größen dieses Universums sind)? So etwas wird aber weder in Schulen noch in Medien gelehrt und gilt gemeinhin unreflektiert als „Esoterik“.

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        • Ja, genau. Das ist der logische Sxhwachpunkt der Kettenbriefe, die mit Berichten aufwarten, was jenen geschehen ist, die den Brief weitergeschickt haben und jenen, die es nicht taten. Besonders beim Bericht über die schreckliche Folgen im Momo-Brief erhebt sich die Frage: Wer hat das gesehen?

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  1. Eine schöner und interessanter Überblick über den Ursprung und den Wandel der Kettenbriefe. Die Awards drohen nicht mit Unglück, das bei der Nichtausübung ereilt – alleine das schon rechne ich ihnen hoch an 😉

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  2. Pingback: In die Hände gefallen – Antwort auf Menschheitsfrage

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