Es gibt in China 17 verschiedene Sprachen, die wiederum eine Unzahl von Dialekten kennen. Wie können sich die Chinesen dann überhaupt verständigen? Das Verbindende ist die Schrift. Sie bildet nicht den Sprachlaut ab wie die Alphabetschrift, sondern besteht aus Bildzeichen, die wiederum für Ideen stehen. Beispielsweise steht die abstrahierte Darstellung von zwei Frauen unter einem Dach für „Streit.“ Wenn es um Gendergerechtigkeit geht, hat die chinesische Schrift also noch Potential 😉 Doch darum geht es hier nicht. Es geht um das Prinzip der chinesischen Schrift, dass die Zeichen in allen chinesischen Sprachen unterschiedlich gesprochen werden, vergleichbar den Zahlzeichen unserer Schrift, die ja auch je nach Sprache völlig anders ausgesprochen werden. So müssen Chinesen nicht die verschiedenen chinesischen Sprachen und Dialekte lernen, sondern „nur“ etwa 10.000 Schriftzeichen. Es gibt wesentlich mehr Zeichen, aber die 10.000 sollten reichen, ein Plakat oder eine Zeitung zu lesen. Die Schriftzeichen sind übrigens im chinesischen Lexikon nach der Anzahl ihrer Striche geordnet.
Diese Kenntnis erlangte der österreichische Jude Charles Kasiel Bliss, als ihn die Flucht vor nationalsozialistischer Verfolgung nach Shanghai verschlagen hatte. Bliss war von der chinesischen Schrift fasziniert, und er kam auf die Idee, ein vergleichbares Symbolsystem zu entwickeln, das international verstanden werden kann und wie die Plansprachen Esperanto, Ido, Volapük und dergleichen der Völkerverständigung dienen sollte. 1949 veröffentlichte Charles Bliss in Australien sein Werk „International Semantography: A non-alphabetical Symbol Writing readable in all languages“ (Semantografie: Eine nicht-alphabetische Symbolschrift, die in allen Sprachen lesbar ist).
Das hohe Ziel hat sich nicht bewahrheitet. Die Idee, über künstlich geschaffene Sprachen oder Zeichensysteme die Völkerverständigung zu fördern, scheitert am Desinteresse und dem Egoismus der Völker und ihrer führenden Politiker. Als international verständliche Bildzeichen sind inzwischen die Piktogramme in Bahnhöfen, Flughäfen oder bei Sportveranstaltungen gebräuchlich. Sie wurden in der uns bekannten Form vom Grafiker Otl Aicher für die Olympischen Spiele 1972 in München entworfen und seither beständig weiterentwickelt.
Doch mit Piktogrammen lassen sich keine komplexen Aussagen machen, denn sie sind als abbildhafte Zeichen zwar unmittelbar verständlich, können aber nur konkrete Sachverhalte verdeutlichen. Die Bedeutung der komplexeren Bliss-Symbole muss man lernen.
An Bliss-Symbole musste ich denken, als socopuk folgenden Text veröffentlichte:
Ich schrieb ihr, dass es aus diesem Dilemma, aus dem Land ohne Buchstaben schriftlich nichts mitteilen zu können, den Ausweg über Bliss-Symbole gäbe, worauf mir socopuk vorschlug, drei „einfache Sätze“ ihres Reiseberichts in Bliss-Symbolen darzustellen. Leider habe ich Bliss-Symbole nicht gelernt, und im Internet sind nicht alle Symbole verfügbar. Aber das System kann ich vorstellen und ich habe auch socopuks Bericht darstellen können, wobei ich für die Richtigkeit nicht garantieren kann.
Ich sitze im Wald.
Ich fliehe vor den Buchstaben.
Ich höre die Schritte meiner Seele.
Das Gestaltungsprinzip ist die auf einfache Formen reduzierte Darstellung. Das unterscheidet die Bliss symbols von modernen Piktogrammen, den emojis, auf die Videbitis in seinem Kommentar hinweist. Deren Vorform, die emoticons, haben auch ein reduziertes Repertoire, waren zuerst nur Satz- und Sonderzeichen. Erst HTML-Interpreter wandeln sie in Bildzeichen.
Zurück zu den Bliss-Symbolen und zu meinen Versuch, socopuks Sätze darin zu übersetzen:
Im 3. Beispielsatz ist das Symbol für Gefühl (Herz) mit Seele gleichgesetzt. Im 2. Satz habe ich für „fliehe“ das „Gehen“-Zeichen gespiegelt und mit dem Zeichen für dislike (siehe Tafel 2) kombiniert. Buchstaben wusste ich nicht anders darzustellen als abc. Da ich das Zeichen für Wald nicht kenne, behalf ich mir in Satz 1 mit der Verdopplung des Zeichens für Baum. Mehr Information über Bliss symbole hier.
Wenn bei uns Schrift Abbild gesprochenen Denkens ist, wie mag sich da Denken und Fühlen bei Chinesen gestalten? Die mir bekannte Musik als zB Ausdruck von Gefühlen kommt mir sehr fremd vor, und wie kann dabei überhaupt eine Verständigung möglich werden? „Stuhl“ dürfte schon schwierig werden, aber „mein“ Stuhl?
Gefällt mirGefällt 2 Personen
Wie wir in unserer denkt ein Chinese in seiner Sprache. Die Sprachentwicklung des Kindes ist ja etwa mit fünf-sechs Jahren abgeschlossen, bevor das Schreibenlernen beginnt.
Trotzdem ist die Frage interessant. wie die gelernten Schriften sich auf die Begriffsbildung auswirken. Zumindest der Vergleich mit sxchriftlosen, also oralen Kulturen zeigt Unterschiede. So vertritt der Ethnologe Jack Goody die These, dass Sprecher oraler Kulturen in wesentlich konkreteren Begriffen denken als wir ans Abstrakte gewöhnte Angehörigen schriftlicher Kulturen. Das freilich ist mit Vorsicht zu genießen, denn auch unsere abstrakten Begriffe sind aus konkreten Bildern entstanden. Heute querte ein Frau vor mir vom Fahrradweg auf die andere Straßenseite und schaute zuvor zurück, um sich zu vergewissern, was sie mit ihrem Fahrmanöver anrichtete. Ein bildhaftes Beispiel für „Rücksicht nehmen.“.
Gefällt mirGefällt 1 Person
Pingback: Land ohne Buchstaben – socopuk
Eine neue Form einer international verständlichen Symbolsprache sind vielleicht Emojis, oder wie siehst Du das? Neulich habe ich mal durch Zufall den Anfang einer Geschichte gefunden, nur mit Emojis erzählt. Es funktioniert, schau selbst:
https://www.artbasel.com/catalog/artwork/20800/Xu-Bing-Book-from-the-Ground#&gid=1&pid=1
Gefällt mirGefällt 4 Personen
Vielen Dank für den Nachweis. Die witzige Geschichte zeigt ja einen konkreten morgendlichen Ablauf. Das leisten diese Piktogramme gut. Aber ich habe bei meinen Unterlagen die Schöpfungsgeschichte in Piktogrammen. Da wird’s schon schwieriger, obwohl die meisten von uns wenigstens den Anfang im Wortlaut kennen. (Ich muss es erst noch suchen und scannen)
Gefällt mirGefällt 1 Person
Leider nicht gefunden. Ich habe deinen Hinweis in den Text oben eingearbeitet. Piktogramme und Emojis sind ein eigenes Thema.
Gefällt mirGefällt mir
Schade, aber macht nichts. Ein weiterer Unterschied ist die Möglickeit, Bliss symbols handschriftlich verfertigen zu können, also in Briefen, wenn man das System erstmal draufhat. Wie Du es ja schon andeutest, geht das mit den immer elaborierteren Emojis und Piktogrammen nur schwer, da braucht man schon zeichnerisches Talent.
Gefällt mirGefällt 1 Person
Ich weiss nur durch meinen Sohn, der japanisch spricht und schreiben kann, dass die japanische Sprache viel indirekter ist als die deutsche. Vieles wird einfach nur angedeutet. Die Japaner haben beim Sprechen oft den Rest des Satzes im Hinterkopf und gehen, wie selbstverständlich, davon aus, dass ihr Gesprächspartner sich auch den Rest denken kann. Die Symbole Kanji genannt haben oft sehr viele Bedeutungen und man versteht sie nur aus dem Zusammenhang heraus. Ähnlich stelle ich mir das auch bei chinesisch vor.
Gefällt mirGefällt 1 Person
Danke für den Hinweis. Japanische Schrift ist ziemlich komplex. Kanji meint ja chinesische Schriftzeichen. Hinzu kommen die Zeichensysteme Hiragana und Katakana, die alle gemischt verwendet werden können. Dein Hinweis auf die indirekte japanische Sprache wäre eine Antwort an Hephaistos weiter oben, wobei die Frage zu klären wäre, was hier durch was beeinflusst wurde. Das ist ein Feld der Vergleichenden Sprachwissenschaft. Da kenne ich mich nicht aus.
Gefällt mirGefällt 1 Person
Die Kanjis bauen auf Hiragana und Katakana auf. Man muss ca 1000 kennen, um eine Zeitung lesen zu können.
Das ist ein berühmtes Beispiel, um das Konzept von Kanjis zu verstehen:
Der Landesname setzt sich aus den Zeichen 日 (Aussprache ni, „Tag, Sonne“) und 本 (Aussprache hon, „Ursprung, Wurzel, Beginn“) zusammen. Japan ist deshalb auch als das „Land der aufgehenden Sonne“ bekannt.
Gefällt mirGefällt 1 Person
Im ersten Moment war ich versucht zu meinen, dass durch die Symbole viel an Bedeutung verloren geht, weil die Details von Worten fehlen. Wenn ich länger darüber nachdenke, bin ich mir aber nicht mehr sicher ob ein „mehr“ auch wirklich dazu dient, Missverständnisse zu vermeiden. Ich glaube nicht. Beschreibungen, da ja. Dort helfen Worte sicher. Aber nicht bei meinem ersten Gedankengang. Man sieht ja wie schnell ein Ausrufezeichen zu viel die Bedeutung schon verändert.
Gefällt mirGefällt 2 Personen
Es ist ja auch hier wie bei der Alphabetschrift. Mit der Übung erweitern sich die Ausdrucksmöglichkeiten. Ich bin sicher, dass Geübte auch mit Bliss -Symbolen komplexer schreiben können als ich, der ich die Schrift nur unzureichend beherrsche. Bei meiner Übersetzung fehlen sicher Bedeutungsnuancen. Manches wird aber auch klarer, beispielsweise bei der Kombination des Zeichens person+1 wird deutlich, dass der Mensch sich immer an erster Stelle sieht, was auch unterstrichen wird dadurch, dass ICH eines der häufigsten Wörter im Deutschen ist.
Gefällt mirGefällt 1 Person
Du hast wohl recht. Man müsste sich intensiv damit beschäftigen um heraus zu finden, wie tauglich oder sogar manchmal geeigneter eine solche Schrift ist.
Gefällt mirGefällt mir
Pingback: In die Hände gefallen – Antwort auf Menschheitsfrage
Lieber Jules,
da ich mich seit 1978 mit den Bliss-Symbolen beschäftigt habe und seinerzeit Ausbildungsseminare im deutschsprachigen Raum angeboten habe, nur der kleine Hinweis, dass in den Abbildungen der Symbole sich manch kleiner Fehler eingeschlichen hat. Bei Interesse helfe ich gern mit Korrekturen.
Es gibt auch Zeichenschablonen für die Grundformen der Symbole, mit denen man alle Symbole „händisch“ darstellen kann.
(Haupt-)Anwendebereich der Symbole in der Kommunikation mit nichtsprechenden (dys- oder anarthrischen Menschen).
Herzliche Grüße
Gefällt mirGefällt mir
Lieber Hermann, Bliss-Symbole kenne ich wirklich kaum, weiß nur etwas über das Konstruktionsprinzip. Über eine fachliche Korrektur freue ich mich.
Beste Grüße
Jules
Gefällt mirGefällt mir