Man kann sich vorstellen, dass ein zügelloses verderbtes Leben, abgrundtiefe Bosheit und lustvoll verübte grausame Verbrechen ihre Spuren im Gesicht eines Menschen hinterlassen. Dass sich die boshafte Lebenshaltung quasi in ein Gesicht schreibt, so dass jeder vernünftige Mensch die Person meidet. Das schließt natürlich nicht aus, dass auch hinter harmlosen Gesichtszügen sich Abgründe von Niedertracht auftun können. Genauso kann es umgekehrt sein. Es gibt beispielsweise eine Wildheit der Gesichtszüge, die nichts mit schlechter Lebenshaltung zu tun hat.
Ein solches Gesicht kannte ich einmal. Ich hatte es schon ganz vergessen, wenn nicht ein Kind geboren wäre und anlässlich der Taufe die weitläufige Verwandtschaft des Kindsvaters angereist wäre, worunter auch zwei Cousins waren, Brüder offenbar, die aus dem fernen Missouri herüber geflogen waren und sich jetzt stolz um die Wiege drängten, als wären sie die Erzeuger des kleinen Mädchens höchstselbst. Just diese Brüder hatten die Wildheit in ihren Gesichtern, die ich schon vergessen hatte. Ich hatte vergessen, dass die menschliche Gesichtslandschaft solche Verwüstungen aufweisen kann, obwohl doch alles wie zufällig an seinem Platz war, auch keine Verletzungen, Narben oder Male die Gesichter entstellten. Nein, Augen, Mund, Nase, Ohren waren geformt wie bei allen Menschen, waren Durchschnittsformen, als hätte man die Bilder aller menschlichen Gesichter übereinander gelegt und deren gemeinsame Schnittmenge zur Vorlage erhoben, genau wie ein Kind es erfasst mit Punkt, Punkt, Komma, Strich – fertig ist das Mondgesicht.
Vielleicht gab die Potenzierung der Durchschnittlichkeit den Gesichtern die groteske Wildheit, so dass der arglose Betrachter Abgründe der Verderbtheit vermuten mochte? Etwas beunruhigte mich, als ich die beiden Cousins dicht bei der Wiege sah. Das wilde Gesicht, dass ich einmal gekannt hatte, gehörte einem jungen Mann in der Straße meiner Kindheit. Er lebte mit seinen alten Eltern zurückgezogen in einem einsamen Haus auf dem Hügel und war früh gestorben, ohne dass je eine andere Frau in sein Leben getreten war als seine Mutter. Aber wieso war dieses Gesicht noch in der Welt? Er hatte es nicht vererben können. Wieso waren im fernen Missouri zwei Brüder aufgewachsen mit exakt dieser Wildnis im Gesicht? Wurde sie gar nicht vererbt, sondern durch mikrobiotische Parasiten übertragen? Und die beiden sabbernden Hillbillys direkt beim Gesicht des Säuglings waren die feixenden Zwischenwirte? Holt sie vom Kind weg, um Himmels Willen!
Die Lebensgeschichten der „sabbernden Hillbillys“ würden mich interessieren, auch die Geschichte des mit seinen Eltern zurückgezogen lebenden Jungen. Was für Geschichten sich um jede Ecke begegen haben könnten! Danke für wabernde Anstöße!
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Es ist ja ein wesentliches Element der Kurzgeschichte, dass einiges offen bleibt, wodurch es diese Anstöße gibt, von denen du schreibst.
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Die beschriebenen Gesichter werden mir wohl den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf gehen. Damit verbunden eine noch nicht wirklich zu greifende Unruhe in mir.
In der Tat: Kopfkino!
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Ich habe die Gesichter im Traum gesehen, was mir den Anstoß zu dieser Geschichte gab. Leider sind sie meiner Vorstellung schon entrückt. Jetzt siehst du sie 😉
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Ich könnte sie Deiner Vorstellung zurückzugeben, indem ich von ihnen träume, und Dir dann den Traum erzähle. Es wäre spannend zu erfahren, wie Du sie dann siehst. 🙂
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Klingt kompliziert. Aber nur zu! Ich bin gespannt,
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Das verlangt eigentlich nach einer Fortsetzung, nach einer Erklärung. Wie kommt wilde Gesicht in die Wildnis? Und wird es sich weiter ausbreiten? Ist es wirklich ansteckend?
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Anstoß waren Medienberichte über den Katzenparasit Toxoplasma gondii, dass ihn bereits 60 Prozent der Menschen in sich tragen und dass er nicht nur Mäuse wagemutig macht, wodurch sie eher gefressen werden, sondern auch menschliches Verhalten manipuliert. Ich dachte mir, dass es wesentlich mehr Phänomene geben muss, die auf Parasiten zurückgehen.
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Ou my God! Unglaublich. In den südlichen Ausläufern der Uckermark wurde schon laut örtlichen Berichten, erhöhter Befall festgestellt.
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Da haben wir den Salat. Der Parasit greift um sich. Dabei leben in der Uckermark doch kaum noch Leute.
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Ich erinnere mich an eine Untersuchung vor einigen Jahren, wo die Frage gestellt wurde, was ein schönes Gesicht ist, was also Schönheit im Auge des Betrachters ausmacht. Man legte den Betrachtern Bilder von weiblichen Gesichtern vor, und es „gewann“ das Gesicht, daß auf die von Dir beschriebene Art entstanden war: Man hatte (fotomechanisch) die Gesichter vieler Frauen übereinandergelgt, sodaß ein völlig gleichmäßige Physiognomie ohne „Charakter“, also ohne individualisierende Eigenschaften, entstanden war. Wildheit im Ausdruck, folgere ich, entsteht eher in der Abweichung von der idealen Gleichmäßigkeit. Aber das nur nebenbei, das ist ja gar nicht Dein Thema …
Zur Beruhigung kann ich immerhin meine Erfahrung beisteuern, daß Menschen mit wilden, häßlichen Gesichtern gute Menschen sein können, daß also Parasiten vielleicht Einfluß haben können auf das Aussehen, aber nicht unbedingt auf das Wesen der Menschen. Wenn die Beiden entzückt sind angesichts eines Babys, dann laß sie ruhig – das ist mehr Empathie, als ich von mir berichten kann.
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Von diesen wilden Gesichtszügen hatte ich geträumt, hab also das Gesicht im Traum vor Augen gehabt, hatte es aber nach dem Aufwachen nicht mehr. Ich vertrete die Auffassung, dass Grusel oder Horror ohne sattsam bekannte Hollywoodeffekte und die Kunst der Makenbildner auskommen können, also keine Verzerrungen oder Entstellungen sein müssen. Darum habe ich die Form der absoluten Durchschnittlichkeit gewählt und gehofft, dass es hinreicht, die Vorstellung zu beflügeln. Überdies gefiel mir der Gedanke, dass es um Gruseliges geht, das alle Menschen in sich tragen. Die Hillbillys sind Erfindungen, können also sein, was ich ihnen andichte. Lese ich zum Schluss bei dir leise Abneigung gegen Säuglinge?
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Ah ja, interessant. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie ein völlig durchschnittliches Gesicht diese dauerhafte Wildheit zeigt, aber es gelingt mir nicht, in meiner Erinnerung findet sich nichts. Vielleicht fehlt mir die Antenne dafür.
Nein, gegen Säuglinge habe ich keine Abneigung, aber auch keine automatische Zuneigung. Ich war mal mit einer Gruppe Frauen bei einer jungen Kollegin zu Besuch, die gerade Mutter geworden war, und die Frauen konnten sich kaum einkriegen vor Entzücken angesichts des verknautscht aussehenden Babys. Ich sollte mich auch dazu äußern, und da die ständige Heuchelei, zu der man andauernd gezwungen wird, mich anödete, ich aber auch nicht unhöflich sein wollte, sagte ich, daß Babys sich doch oft sehr ähnlich sind, wenn sie gerade auf die Welt gekommen sind. Ich fand das diplomatisch. Ich bin nicht gelyncht worden, aber viel hat nicht gefehlt. Da hätte selbst ein Bekenntnis zu meiner Abneigung gegen kurze Hosen nichts mehr gerettet.
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