Um heimisch zu werden in Hannover bin ich anfangs viel mit dem Fahrrad ins Umland gefahren. Als ich einmal über die Felder rollte, sah ich in der Ferne einen Radfahrer hinter mir her fahren. Wann immer der Weg abknickte, sah ich ihn näher kommen und erkannte bald einen stämmigen jungen Mann mit einem stampfenden Fahrstil. Als er mich einholte, kamen wir ins Gespräch. Er plauderte drauf los und erzählte arglos, dass er von einer Grafik-Fortbildung komme. Das Arbeitsamt zahle ihm eine Umschulung zum Tätowierer. Er konnte ja nicht ahnen, dass ich Tattoos für eine moderne Pest halte.
In genau dieser Gegend hatte ich mich mal verfahren. Ich hatte nichts zu essen mitgenommen, wollte mich unterwegs verpflegen, aber auf den Dörfern gibt es keine Geschäfte mehr. Jedenfalls fürchtete ich bald, dem Mann mit dem Hammer zu begegnen. Da sah ich vor mir eine junge Frau mit Hund, und als ich auf ihrer Höhe war, fragte ich sie, ob es im Dorf eine Bäckerei gebe. „Nein“, sagte sie, „wir haben hier gar nichts.“ Sie war ziemlich hübsch, wie ich im Vorbeirollen sah. Aber über ihrem Ausschnitt prangte eine keltische Flechtbandornamentik, quer über das Dekolletee tätowiert. Da dachte ich schon, wer es über sich bringt, ein entzückendes Dekolletee mit einem Verhau aus dreckigblauer Tinte zu verschandeln, muss das Gemüt eines Fleischerhunds haben. Ich drehte mich noch mal um und rief: „Was esst ihr denn?“ Seufzend hob und senkte sich die keltische Hecke: „Wir fahren in den Supermarkt!“
Diesen verschandelten Busen vor Augen, behandelte ich den zukünftigen Tätowierer ein bisschen von oben herab, weshalb er sich befleißigte, mir atemlos mitzuteilen, dass er durchaus ein kulturelles Wesen sei, beispielsweise etwas von einer Kirche seines Heimatortes wusste, die wegen ihrer Deckengemälde sogar (!) bei Wikipedia erwähnt wäre.
(Das Gespräch Im Video etwa bei 3:40 – es startet dort)
Der Ort hieß Leveste, und wir hatten an seinem Rand gehalten mit Blick auf einen Gutshof mit Teich und Enten inmitten alten Baumbestands. Das sei das Anwesen der Knigges, sagte der Fleischerhund, und die alte Baronin lebe immer noch dort. Ihr Vorfahr Adolph Freiherr Knigge (1752 – 1796) ist uns als der Schöpfer von Benimmregeln bekannt, begründet durch sein Hauptwerk „Über den Umgang mit Menschen“, erschienen 1788.
Das Buch ist aus der Perspektive des vom Leben enttäuschten Kleinadeligen geschrieben, dem es trotz seiner Einsichten in die menschliche Natur nicht gelang, gesellschaftlich aufzusteigen. So schildert er fast verbittert, dass er einem Grafen ein Gemälde geschenkt habe, um sich der Gunst des Grafen zu versichern. Bei einem späteren Besuch erlebte Knigge, wie der Graf voller Stolz das Bild herum zeigte und vergessen hatte, wie er in den Besitz gekommen war, denn er behauptete, er habe das Gemälde irgendwo spottbillig erstanden. Dass Knigges umfassenden Ratschläge über den Umgang mit sich und den Mitmenschen später reduziert wurden auf Benimmregeln, hat etwas mit der devoten Geisteshaltung Knigges zu tun. Daher konnten Knigges kluge Ratschläge zu den starren Bildern von Etikette umgedeutet werden, zu Vorschriften, wie man sich in der besseren Gesellschaft zu benehmen habe – als unterwürfige Anpassung an die Gegebenheiten.
Eine Weile trug ich ein kleines Buch mit mir herum, das gut in die Hand passt: „Handorakel und Kunst der Weltklugheit“ von Baltasar Gracián (1601 – 1658). Die Originalausgabe: Gracian’s Oraculo manual y arte de prudencia erschien 1633. Arthur Schopenhauer hat das Handorakel im frühen 19. Jahrhundert „treu und sorgfältig übersetzt.“ Dieses Büchlein begleitet mich schon gut 15 Jahre, und vieles daraus habe ich verinnerlicht, denn ich kann Gracians Worte noch heute verknüpfen mit eigenen Erfahrungen. Balthazar Gracián schreibt bündiger und klarer als sein Epigone Knigge. Gracián gibt nicht nur Ratschläge, wie man mit sich selbst umgehen, wie man sich vervollkommnen und wie man seinen Mitmenschen begegnen sollte, er gibt auch Anleitung zur Entfaltung von Macht über sich und andere (hier online zu lesen). Es fehlt ihm aber eine soziale Haltung, die den Eigennutz übersteigende Einsicht, dass der Mensch ein Sozialwesen ist und sich auch als ein solches zu verhalten hat. Das Leben ist für ihn ein Kampf, die Oberhand zu gewinnen.
Weder Gracians Machtmittel noch Knigges Umgangsformen helfen, die Gesellschaft klug zu gestalten. Herrschaften mit strategischen Fähigkeiten und vorzüglichen Manieren verdienen am schändlichen Unterschichtsfernsehen, verhindern echte Bildung, bringen Menschen um Hoffnung, Brot und Arbeit, führen Kriege, befehlen Folter und Mord, plündern bedenkenlos unsere Gesellschaften aus. Die Liste ihrer Schandtaten ist endlos. Und täglich offenbart sich aufs Neue, wie verkommen die Geisteshaltung ist hinter den geleckten Fassaden unserer Eliten.
Für mich gehört Tätowiert sein zur Prollkultur und ist Sklavenart, also nichts für stolze Freie. Indem die Menschen unserer Zeit sich zunehmend machtlos und unterworfen erleben, lassen sie sich mit Tätowierung als die Sklaven markieren, die sie sind. Da passt es, dass die Arbeitsagentur Umschulungen zum Tätowierer bezahlt. Der Bedarf steigt.