Ich weiß nicht, ob hauschnau überhaupt ein allgemein bekanntes Wort ist. Es gehörte jedenfalls zum Idiolekt meiner Mutter und meint, ratzfatz über etwas hinweggegangen zu sein, aber schlimmer als ratzfatz, nämlich lieblos. Heute Morgen unter der Dusche fiel mir jedenfalls auf, ich wäre hauschnau mit dem Schluss meiner Reisedokumentation verfahren. Wie die Kutschpferde schneller werden, wenn sie den heimischen Stall wittern, drängten sich die Wörter, im letzten Absatz zu Schlussworten zu werden, und ehe ich „Ruhig, Brauner!“ rufen konnte, riss die Kutsche mich fort wie Kafkas machtlosen Landarzt, kam ins Rasen, bekam vorm Haus gerade noch die Kurve auf zwei Rädern, dass der Kies aufstob, ratzfatz war ausgespannt und alles in seiner Box, die „ENDE-Vignette darunter geknallt, und nachdem überall nach dem Rechten gesehen war, die Pferde ihre Mäuler im Futtersack hatten, sank ich ins Bett.
Ach, wie hingebungsvoll habe ich die Vignette damals gezeichnet und gemalt, als noch viel Zeit in meiner Welt war. Ich gestaltete ENDE, aber dachte nicht ans Ende, hatte noch ewig Zeit vorm Bauch. Diese Sorglosigkeit hat mich verlassen. Ich bin erschöpft von der schriftlichen Tour, die viel mehr Denken als Tastendrücken war, und das Gehirn ist bekanntlich der größte Energieverbraucher.
Wie war es in Nürnberg? Ich bekam einen Einblick in fremde Lebenswelten, vorrangig in die von Christian Dümmler CD und Anna socopuk. Erlebte die beiden in ihrem Wirkungskreis in ihrer Heimatstadt Nürnberg und war selbst für kurze Zeit Akteur in ihrem jeweiligen Mikrokosmos, lernte Teilbereiche ihrer Stadt kennen und mich darin zu orientieren. Ganz wunderbar finde ich übrigens, dass es von der ersten Begegnung zwischen Christian und mir zwei Texte gibt, aus unserer jeweiligen Perspektive.
Jede, jeder hat schon vor einem fremden Haus gestanden und sich gefragt: Wie mag es drinnen aussehen, was geschieht dort? Welchen Mikrokosmos beherbergt das Gebäude und ist die normale Lebenswelt welcher Menschen mit welchen Sozialbezügen? Mir geht es vor einer unbekannten Arztpraxis so, besonders aber beim Bahnfahren, wenn ich durchs Zugfenster plötzlich Menschen in ihrem Schrebergarten oder vor ihrer Haustür stehen sehe und ahne, da ist alltägliches Leben, von dem ich nur ein Vorbeiwischen mitbekomme. Aber auch das ist nur ein winziger Teilbereich der Welt. Ein Bild von einer anderen Reise:
Unplanmäßiger Halt vor Bad Oeynhausen. Da reckt sich eine kümmerliche Pflanze aus dem Schotter und zittert im Westwind. Vermutlich werde ich sie niemals wieder sehen, weiß nicht einmal ihren biologischen Namen, und doch tritt sie plötzlich in meine Wahrnehmung ein, und ihre Botschaft ist: Ich bin da, ich war es schon gestern und werde es auch morgen sein. Mal werde ich von der Sonne gedörrt, mal vom Wind gezaust, mal vom Regen niedergedrückt, mal droht mich ein vorbeirauschender Zug hinweg zu reißen, doch ich treibe meine Wurzeln tiefer und trotze all den widrigen Bedingungen am Gleisbett. Ich war ein Samenkorn, als du fünf Jahre weniger auf dem Buckel hattest, und ich werde dich vielleicht überleben. Jedenfalls interessiere ich mich nicht für dein Machen und Tun, denn das hier ist mein Universum. – Es macht mich wehmütig, dass die Pflanze mir eigentlich gar keine Botschaft sendet, sondern ich sie nur herauslese aus ihrer Existenz. So viele Leben nebeneinander, so viele Universen.
Das Meiste von der Vielfalt des Lebens bleibt uns für immer verborgen. Einblick zu bekommen ist ein Geschenk und eine Erweiterung der eigenen Perspektive.
In meiner Dokumentation treten Menschen auf, die sich mit entfremdeter Arbeit eher krumm und schief durchs Leben quälen müssen. Ich fühle mich fast als deren Ausbeuter, wenn ich sage, dass auch sie mir die Perspektive erweitert haben. Während ich mit Christian im Biergarten saß, bewunderte ich die Kellnerin, die mehrfach ein Riesentablett mit Speisen vorbeitrug, dieses lange Brett mit einer Hand stemmte und dabei fast schwerelos schien. Das ist vielleicht besser, als jeden Morgen im Bahnhof toten Fisch zu rollen, endlos Butterbrote zu schmieren oder ein „U-Bahn-Kapitän“ zu sein, dem durch die fahrerlose U-Bahn auf „infame Weise“ seine „völlige Überflüssigkeit“ mitgeteilt wird, wie Matthias Egersdörfer im Video schimpft.
Was wird? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das Schöne, das Gelungene nicht einfach wiederholt werden kann. Aber Ähnliches sollte möglich sein, wenn man es nicht durch Erwartungen überfrachtet. Als ehemaliger Handwerker muss ich zum Feierabend immer ein Ergebnis vorweisen können. Ein erstes Ergebnis ist diese Dokumentation. An ihr erfreuen mich die vielen Gedanken und Statements im Subtext der Kommentare. Aber gewaltig stört mich die Ortlosigkeit der digitalen Schrift. Ich habe seit 2005 schon viele Reisedokumentationen geschrieben, manche wie hier, manche ein wenig phantastischer auf anderen Plattformen. Die hätte ich Lust zusammenzutragen, um ein Buch daraus zu machen, das über versinkende Blogplattformen und auch meine Endlichkeit hinausragt. Ich habe Christian schon gefragt, ob er etwas Neues von mir layouten will. Er hat zugesagt. Was sonst noch wird, ist bislang nicht ausformuliert. Guten Tag und danke fürs Mitkommen.