Forschungsreise zu den Franken (1) – Die Form der Welt

Im Inter-City-Express (ICE) habe ich Kachelmanns legendären schwarzen Wollschal vermisst. Wie der Zug auf der Höhe von Fulda durch ein ausgedehntes Regengebiet rauscht, wo der Himmel grau verhangen, Regenschleier über den Wäldern liegen und Dunst aus Tälern aufsteigt, wie sich dicke Rinnsale an der Fensterscheibe versammeln und unterm Fahrtwind zitternd ihren fast waagerechten Verlauf nehmen, da jedenfalls beschließe ich, mir in Nürnberg als erstes eine lange Hose zu kaufen und eventuell den Kachelmannschal, falls der überhaupt irgendwo käuflich zu erwerben und aus gängiger Materie beschaffen ist. Ich bin also trotz bester Vorbereitung auf die Reise nicht passend angezogen. Weil es eisig ist im ICE, merke ich, dass mir in den Sneakers die Knöchelsöckchen unter die Füße gerutscht sind, derweil das ringsum bei den ähnlich gekleideten Füßen der Mitreisenden nicht so ist.

Ich notiere in mein Büchlein: „Die Welt passt mir nicht.“ Den Einwand, dass Knöchelsöckchen ja wohl nicht die Welt repräsentieren, weise ich zurück. Dass die Welt mir nicht passt, begleitet mich schon das ganze Leben. Immerzu stehe ich ein wenig schräg zur Welt wie eine ungenau geschnittene Schablone, die eigentlich abdecken soll, doch an deren Kanten es blitzt. Aber genau diese Blitze geben mir vielleicht einen Anschein von der Beschaffenheit der Welt. So etwas denkt sich einer zurecht, um sich mit unter die Ferse gerutschten Söckchen zu versöhnen, zu vertöchtern zu verschwippschwagern und so weiter.

Bei Würzburg erneut ein schwerer Ausnahmefehler im galaktischen Betriebssystem. Beim Beginn der Fahrt von Nord nach Süd zeigt sich die Sonne links von mir, also wie zu erwarten im Osten. Nach der wolkenverhangenen Phase befindet sie sich rechts. Meine Zeichnung lässt nur den einen Schluss zu, der Zug hätte die Sonne links umfahren. Das hätte aber viel mehr Zeit in Anspruch genommen als vergangen ist. Wollte ich das Umfahren der Sonne verwerfen, muss die Welt in dieser Gegend seitenverkehrt sein. „Ex oriente lux“ gilt hier nicht. Es ist vielleicht gefährlich auszusteigen. Sobald man den Fuß auf den Grund gesetzt hätte, würde man auf links gekrempelt. Aber vermutlich merkt mans gar nicht, weil ein „Referenzsystem“ fehlt. Hm? Was für ein Wort? Es gehört mir nicht. Ich glaube, dieses Wort habe ich tags darauf bei ihr aufgeschnappt. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Da liegt noch ein Bergmassiv aus Zeilen vor uns, und erst auf der anderen Seite begegnen wir socopuk. Zunächst die verkehrte Welt: Also man wird beim Betreten des Bahnsteigs auf links gekrempelt in dieser Welt, die komplett auf links gedreht ist, würde die Verkehrtheit nur merken, wenn man den davonrauschenden ICE anfasst, der ja weiterhin rechtsgedreht ist. Dieser Kontakt würde einem den Arm abreißen, weshalb eindringlich davor zu warnen ist, falls hier Kinder mitlesen.

Nur wegen dieser eventuell mitlesenden Kinder übrigens halte ich mich an die gängige Orthographie. sonst würde ich beispielsweise alles klein schreiben. aber es käme mir vor, als würde ich bei rot den ampelbewehrten zebrastreifen überschreiten, derweil auf der anderen seite eine ganze wibbelige kinderschar mit einer strafend blickenden kindergärtnerin wartet. also kehren wir allmählich zur korrekten Orthographie zurück, bevor eine Schar junger Menschen in den sicheren Tod rennt, nur weil ich ein schlechtes Beispiel gegeben habe.

Jetzt weiß ich auch wieder, wieso mir das Wort „Referenzsystem“ zugeflogen ist. Ich hatte nämlich gesagt, dass ich beim Schreiben die redaktionsinternen Regeln der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) benutze, also nicht etwa „z.B.“ schreibe oder „zum Beispiel“, sondern „beispielsweise“, und socopuk meinte, es wäre ihr nicht aufgefallen, weil ihr das „Referenzsystem“ fehle. Zu diesem Referenzsystem gehört beispielsweise die Regel, dass es nicht „Firma“ heißen darf, sondern „Unternehmen“, und kürzt sich ein Unternehmen, eine Institution oder eine Bezeichnung ab, wird bei der ersten Erwähnung ausgeschrieben, und das Akronym in Klammern hintan gesetzt, so dass man im weiteren Text auf die Ausschreibung und Klammerung verzichten kann, ich beispielsweise rufen könnte: „Vorsicht, fasst den ICE nicht an!“, weil ich das abzischende Referenzsystem oben im ersten Satz schon ausgeschrieben habe.

Glücklicherweise sind wir nicht ausgestiegen in Würzburg oder Erlangen, sondern lassen das Regengebiet hinter uns und rauschen wieder unter der Sonne dahin, die sich eine Weile wohl senkrecht über dem Zug befindet, dann aber wieder auf die rechte Seite, also die linke wandert.
Fortsetzung hier

30 Kommentare zu “Forschungsreise zu den Franken (1) – Die Form der Welt

  1. Da ich schon mein ganzes Leben mit einer eklatanten Rechts – Links – Schwäche lebe und Orientierung im Raum nur zufällig gelingt, wundere ich mich über solche Phänomene wie die wandernde Sonne schon lange nicht mehr. Aber die doofen knubbeligen Rutschsocken, die nerven total!

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    • Die Bezeichnung Rechts-Links-Schwäche verlegt ja das Phänomen in die betreffende Person und bezeichnet es als „Schwäche.“ Da unsere Wahrnehmung der Welt gleichzeitig eine Konstruktion der Welt ist, kannst du ebensogut sagen, dass die Rechts-Links-Verhältnisse in deiner Welt nicht klar geregelt sind, vergleichbar der unorthodoxen Haus-Nummerierung in den Straßen Berlins. Hätte ich gewusst, dass die Teile „Rutschsocken“ heißen, hätte ich sie keinesfalls gekauft. 😉

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  2. Ich hab tatsächlich Tränen in den Augen. Du bist so wunderbar und ich bin dir dankbar für deine Sicht auf diese Reise, so dass ich unsere Begegnung nochmal in Slow Motion erleben darf. Und überhaupt ist diese Woche … ach … ohne Wörter! 😉
    Guten Morgen, mein Lieber!

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  3. Las sich sehr schön, Dein Ausflug im Tiefkühlkomfortwaggon der DB. Ich stand in Strickwirkware mit frierenden Gänsepickelchen im eiskalt prickelnden Discounter und wunderte mich über die nichtfrierenden Leute in weniger als Nichts ist besser als ganz oder garnicht-Gewandungen. Sie irrten ziellos umher. Schöne Begegnungen sind das Salz in der Suppe des Lebens. Liebe Grüße aus dem saunaheißen Teuto
    (Echte Hermännchen grillen sich eine Fichte zum Frühstück)🤗

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    • Freut mich, liebe Fee, und oja, im Supermarkt kann man dieser Tage auch frieren und unter Kältschock irre werden. Vor meiner Erkrankung habe ich übrigens die Gelegenheiten, Blogfreundinnen und -freunde kennenzulernen immer gesucht und gefunden, weils eine wirkliche Bereicherung ist. Mit dem Ausflug nach Nürnberg habe ich das nach fünfjähriger Pause wieder aufgenommen und gleich zwei liebe Menschen getroffen, socopuk und CD. Ein Glück!
      Ich fürchte fast, die rustikalen Bräuche im Teuto heizen die Atmosphäre auf. 😉

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      • Puh, ja, die Teutoburger sind schon ein wildes Völkchen. In den zehn Jahren Bloggerei habe ich schon so einige Leutz kennen- und mögen gelernt. Die Worte bilden die Brücken der Vorstellung aus der virtuellen Illusion in die Wirklichkeit. So formen sich Zuneigungen zwischen Menschen aus, welche sich andernfalls nie begegnet wären…und das ist eine der besten Seiten von Bloggerei im Internett. Es ist schön zu lesen wie Du den alten Besuchsbrauch wieder aufnimmst.

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  4. Interessante quantenphysische Theorie. Bin im Linksreich gebohren und darf dir deshalb wohl nie die Hand geben🙈. Das Problem mit den Knöchel Söckchen habe ich dadurch gelöst, dass ich jetzt klassische Zehentreter trage. Bei diesem Wetter sehr komod.

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  5. Links, rechts, Norden, Süden, das sagt mir alles nichts, wenn ich an Orten bin, die mir nicht vertraut sind. Mir wäre es kaum aufgefallen, dass die Sonne aufgrund eines schweren Ausnahmefehlers die Seite gewechselt hat. Lieber möchte ich nicht daran denken, wie oft das passiert und wie gedankenlos ich es ignoriere. Lieber lese ich (nachdem ich mich versichert habe, dass mein Ostbalkon gerade im Schatten liegt) bei dir, lieber Jules, darüber. Auch über verrutschte Knöchelsocken und einem nicht passenden Leben. Besonders gerne aber, dem Link im Text folgend, über eine besonders schöne Begegnung von zwei Menschen, die so warm und herzlich über einander und in den Kommentaren miteinander schreiben, dass es eine Freude ist, die Worte zu lesen.

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    • Eine Frau, die ich mal sehr geliebt habe, war ähnlich wie du in der Welt, liebe Mitzi. Sie gestand mir einmal, dass sie noch als Jugendliche geglaubt hatte, die Sonne käme zweimal am Tag vorbei, wobei mich dieser Einblick in ihre spezielle Welt rührte. Ich mag derlei sehr und freue mich, dass du zum Lesen ein schattiges Plätzchen hattest und dich für socopuk und mich freuen konntest. Nürnberg ist ja von Hannover soviel näher als München, weshalb es bei uns beiden leider noch nie geklappt hat, die digitale Freundschaft durch ein analoges Treffen aufzuwerten

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      • Bei manchen Menschen mag man eine solche Naivität.
        Natürlich freue ich mich. Das hätte ich übrigens auch getan, wenn du jemanden in München besucht hättest. Sympathie und Wertschätzung stehen und fallen nicht mit Besuchen. Wer weiß, vielleicht stehe ja ich irgendwann in Hannover ;). Bis dahin verfolge ich weiter deine Reise zu den Franken.

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  6. Ich denke, es ist völlig normal, dass bei einer Reise von Nord nach Süd die Sonne von links nach rechts wandert. Die Geschwindigkeit, mit der sie das tut, hängt auch mit der Geschwindigkeit bzw. Langsamkeit des Zugs zusammen. Und selbstverständlich vom Platz, den man nach dem Toilettengang wieder einnimmt … 😉

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    • Ja, klar, wenn man den ganzen Tag reist, ich aber fuhr um 6:30 Uhr los und war kurz nach 9 Uhr am gleichen Morgen in Nürnberg. Den vorherigen Platz kann man nach einem Toilettengang verfehlen. Glücklicherweise lag mein Rucksack dort und gab Zeichen. 😉

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  7. Guten Morgen oder noch gute Nacht, es dünkelt noch und ich habe mich jetzt von hinten nach vorne durchgellesen. Wenn einer eine Reise tut, …
    Sehr unterhaltsam schilderst du Aufbruch und Vollzug der Unternehmung, sodass der mich meidende Nachtschlaf mir nicht zum Schrecken sondern eher zum Genuss wurde.
    Na denn.

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