Die kurze Marienwerderstraße verläuft von Nordwest nach Südost und wird, nachdem sie die Davenstedter Straße gekreuzt hat, zur Billungstraße, die wiederum schon zum Lindener Berg ansteigt. Durch diese Blickschneise kann ich, wenn ich mich aus einem Fenster zur Straße lehne, den offenen Südhimmel sehen, und oft zeigt sich just dort der Mond. Gestern Abend hing ich hitzebedingt in den Seilen und hätte die Mondfinsternis, die sich als Blutmond zeigen sollte, beinah vergessen. Doch als ich aus dem Fenster schaute, schimmerte die Blutorange durch zwei Baumkronen.
Da beschloss ich, um den Block zu gehen, um den Blutmond besser sehen zu können. Ein wenig wunderte ich mich über seine Form. Aber von der Straße unten waren noch immer einige Baumkronen im Weg, so dass ich mich tröstete, dass ich dieses Jahrhundertereignis besser würde sehen können, wenn der Mond höher gestiegen wäre. Ich müsste mich nur ein wenig gedulden, was mir leicht fallen sollte, denn wenn ich den Blutmond verpassen sollte, würde ich satte 105 Jahre warten müssen. 105 Jahre bei dieser Hitze!, dachte ich noch, ja, dankeschön! Inzwischen triefte ich nämlich „wie ein Kieslaster“ (Matthias Egersdörfer), denn ich hatte mir dummerweise beim türkischen Lebensmittelhändler ein, zwei Kölsch geholt und mir nach wenigen Schlucken den Schweiß nach draußen getrieben.
Von der Hitze niedergedrückt hob ich den Kopf kaum noch hoch zur Säufersonne und merkte deshalb erst spät, dass ich die ganze Zeit ein orangefarben leuchtendes Firmenschild oben an einem Baukran für den Blutmond gehalten hatte. Was? Bei allem, besonders bei nächtlichen Himmelserscheinungen sehen wir sowieso nur, was wir glauben zu sehen. Am Ende ist da nur eine nachtblaue Decke über uns gespannt, die wir fürs Himmelsgewölbe halten. Mond und Sterne sind nichts als Löcher, durch die eine Glühbirne scheint, die an einem galaktischen Baukran hängt.
Will sagen, ich habe das Jahrhundertereignis zwar gesehen, aber nicht richtig. Das nächste Mal besser, denn soo lange sind 105 Jahre nun auch wieder nicht. Im April 1993 klebte ich mir diese Zeitungswerbung für den Zweitausend-Countdown-Abreißkalender ins Tagebuch und meckerte noch, dass die Kerls mal wieder nicht abwarten können, weils ja gut sieben Jahre hin waren zum Jahrtausendwechsel, und jetzt sind wir bereits 18 Jahre drüber weg; insgesamt sind schon 25 Jahre vergangen. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass ich in 105 Jahren noch Lust habe, von der Marienwerderstraße die Billungstraße lang zum Himmel hoch zu sehen, und wenn sie hundertmal einen galaktischen Baukran mit Säufersonne aufstellen.
Andere halten das Burger-King-Schild bereits für den Blutmond. Mit Brille wär das nicht passiert …
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Da könntest du Recht haben.
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Den nächsten Blutmond, den in 105 Jahren, den schauen wir uns gemeinsam an, lieber Jules. Es ist überfällig und bei der Zeitspanne habe ich etwas auf das ich mich freuen kann. Kölsch für dich, ein Augustiner für mich. Du nimmst Käse mit, ich backe ein Walnussbrot.
Ich freu mich!
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Und ich versuche bis dahin eine Ausnahmeerlaubnis für den Aufenthalt im Freien zu erlangen; nicht dass das dann als terroristische Vereinigung mondsüchtiger ISS -Anhänger in Verruf gerät.
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@ Schlingsite
Sehr fürsorglich von dir, vielen Dank! Es ist gut, ein derart epochales Treffen gegen Störungen aller Art abzusichern.
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@ Mitzi
Das nenne ich mal eine rechtzeitige Verabredung, liebe Mitzi. Ich richte mich darauf ein und freue mich drauf!
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„Am Ende ist da nur eine nachtblaue Decke über uns gespannt, die wir fürs Himmelsgewölbe halten.“
Es ist keine Decke, sondern ein Kasten, in dem wir leben, eine Zeitschaltuhr regelt das Licht. Hier ist der Beweis:
https://koelnfotos.com/2008/03/19/brusseler-str-3902469/
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Ich habs mir doch gleich gedacht. Unter diesem Gesichtspunkt wäre unser Zeit-Raum-Konzept neu zu bedenken. Wir sind ja soo naiv. Vielen Dank für den Nachweis!
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Leider hat man uns nicht gesagt, wie das Wetter in 105 Jahren sein wird. Gut möglich, dass es bewölkt sein wird. Irgendwas ist immer. Dann warten wir einfach auf den nächsten Blutmond … 😉
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