Im Nachbarhaus schräg gegenüber haben sie offenbar eine Wand herausgeschlagen. Ich hörte die schweren Hammerschläge und sah junge Leute, auch eine Frau, wie sie Eimer voller Schutt aus dem Haus trugen, um sie auf einen offenen Container zu kippen. Als ich daran vorbei kam, sah ich in all dem Schutt ganze Ziegelsteine. Ich musste an die Leute denken, die die Ziegel einst formten und brannten und an die Arbeiter, die damit die Mauer hochgezogen haben. Und jetzt fliegt das Ergebnis ihrer Arbeitsleistung auf den Schutt. So geht es alleweil. Menschen bauen etwas auf, andere reißen es wieder ein.
Letztens übernachtete ich in Hamburg in einem Viertel, das noch gepflasterte Straßen hat. Straßenpflaster ist Stein um Stein verlegt. Menschen sind im Schweiße ihres Angesichts auf den Knien gerutscht, haben Steine in ein Sandbett gelegt, eingepasst und mit dem Hammer festgeklopft. Ich sehe die krummen Rücken vor mir. Die Leistung der Pflasterer weiß ich durchaus zu würdigen. Trotzdem gehe ich nicht gerne über die hubbeligen Pflastersteine. Ich habe mich schon immer gefragt, wieso sich die Steine im Kopfsteinpflaster nicht irgendwann mal so richtig angleichen. Warum werden sie nicht über die Jahre von hunderttausend Paar Schuhsohlen abgeschliffen, so dass sie eine gleichmäßige Oberfläche bilden? Ich glaube, die Menschen haben zu kleine Füße. Sie rutschen damit immer in die Fugen, und das rundet die Kopfsteine ab, statt sie zu egalisieren. Man müsste also kleinere Steine nehmen, aber das würde der Bauunternehmer sich teuer bezahlen lassen, weil die Pflasterer viel langsamer vorankämen. Die erste Generation der Anwohner müsste Unsummen aufbringen, ohne selbst etwas davon zu haben, weil sich die Steine ja höchsten nach zwei bis drei Generationen erbaulich abgeschliffen haben. Wer wollte für seine Urenkel soviel Geld ausgeben, nur damit deren Füße mal von glatten Steinen geschmeichelt würden? Es weiß doch kaum einer, ob er einmal Urenkel haben wird. Und für fremder Leute Urenkel muss man nun wirklich kein Geld ausgeben. Außerdem könnte passieren, dass die Urenkel dereinst die Pflastersteine ganz schnöde herausreißen und auf den Schutt werfen, genau so wie meine Nachbarn die Mauerziegel.
Im Hamburger Rothenbaum-Viertel haben derzeitige Urenkel noch nichts gegen Kopfsteinpflaster. Sie finden im Gegenteil chic, keinen schnöden Straßenbelag aus Asphalt zu haben. Kein proletenhaftes Makadam, du verstehst? Kopfsteinpflaster, verlegt von Männern, die sich krümmen mussten, die schwitzend auf schmerzenden Knien lagen, solcher Straßenbelag passt zur prächtigen alten Bausubstanz der herrschaftlichen Häuser. Das Viertel wirkt nur nicht versnobt, weil es gleichzeitig ans Univiertel grenzt. Dort bereiteten Studierende einen schönen Protestabend gegen das Sterben im Mittelmeer vor, mit Livemusik, Grill- und Getränkeständen. Auch Siebdruck konnte man lernen, versprach ein Schild. Vermutlich konnte man irgendwo in Kreativkellern noch mehr wohlmeinende Transparente malen. Man konnte beim Protest auch einfach vor einem studentischen Café sitzen, fair gehandelten Latte macchiato mit Sojamilch trinken und dem Soundcheck zuhören. Es war hübsch. So macht Protest wirklich Spaß. Die ganze Stimmung dort erinnerte mich an einen Aufenthalt vor Jahren.
Ich bin mit Lisette dort gewesen, und wir übernachteten fünf Tage in der Wohnung eines ihrer Kollegen. Der Mann war im Urlaub. Als wir am Bahnhof Dammtor ankamen, rief Lisette in der Wohnung an, um sicher zu gehen, dass er wirklich schon weg war, wir also die Wohnung für uns hätten. Sie rief an und wurde blass, denn er ging ran. Aber er war trotzdem weg, hatte nur die Rufumleitung zu seinem Urlaubsort auf einer Mittelmeerinsel geschaltet. Die Wohnungsschlüssel hatte er bei einer Nachbarin deponiert. Wir hatten Mühe, die Tür aufzuschließen, der vielen Schlösser wegen, die er an seiner Wohnungstür hatte. Ich erinnere mich noch, dass wir innen schwere Riegel vorfanden. Ob er in seiner Wohnung große Werte beherbergte, ist mir nicht aufgefallen. Aber in seinem Bett hatte er einen überwältigenden Kissenreichtum. Wir haben alle Kissen beiseite geräumt, und ich verbrachte in diesem Bett eine der schönsten Nächte meines Lebens. Nach einem glutheißen Tag war nämlich gegen Morgen ein kühlender Regen niedergegangen, wie es hier geschildert ist.
Auch mein Viertel hat noch viel Kopfsteinpflaster. Die Bevölkerungsstruktur ist ähnlich, doch es gibt nicht soviel altes Geld. Hier hegen viele die Illusion, dass sie mit ihrem linken Humanismus die Welt verbessern können. Wenigstens ein Weniges ihrer Probleme sollte man mildern können. Doch bei unserer Lebenshaltung lösen wir keine Probleme, wir sind Teil des Problems, ob wir wollen oder nicht. Ich glaube, es müsste mal regnen.
Jegliches hat seine Zeit – Steine sammeln, Steine zerstreun… (Die Bibel featuring Phudys)
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Ein passender Songtext. Kannte ich nicht. Danke für den Nachweis.
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Danke für die kurzweilige Lektüre. Als sich am Ende der Kreis wieder schloss, musste ich breit grinsen.
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Danke fürs aufmerksame Lesen. Zurück an den Anfang ist eigentlich ein Formelement der journalistischen Reportage. Ich strebe das immer schon bei meinen Blogtexten an. Innerhalb längerer Texte können sich mehrere Kreise öffnen und schließen. Ich bin unzufrieden, wenn es gar nicht gelingt.
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Ich mag auch schließende Kreise – manchmal setzen sie dann zu einer zweiten Umdrehung an. 🙂
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Das war mir auch in der Vergangenheit aufgefallen, aber diesmal war es rund wie die Steine.
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Ich mag Pflastersteine immer noch, ja auch als Radler, vielleicht nicht die in Polen aber die Geschichte die die Steine erlebten regt meine Phantasie an. Die Steinhauer in Mayen hatten Pflastersteine in Akkordarbeit geschlagen und 1,2 Pfennige für einen Stein bekommen. An Hipster haben die damals aber wohl noch nicht gedacht…
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Als Radsportler bin ich auch immer gern über Kopfsteinpflaster gerauscht. Wenn man es schnell tut, fliegt man gerdaezu darüber. Wegen mener Rückenschmerzen bin ich inzwischen vorsichtiger, weil jede Unebenheit reinhauen kann, wenn man ihr nicht vorher schon mit entsprechender Körperspannung begegnet. Danke für den Hinweis auf die Steinhauer.
Nebenbei: Hipster sind mir allemal lieber als solche, die mit Militärstiefeln aufs Pflaster knallen. 😉
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Mir auch, Militärstiefel sind allenfalls als Blumenkübel akzeptabel.
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Makadam ist ein schönes Wort meiner Großmutter, zusammen mit Trottoir und Peron inzwischen untergegangen.
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Als mir das Wort Ende der 1980-er begegnete, nach dem schottischen Erfinder McAdam, war es schon weitgehend vergessen.
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Ein bisschen assoziative Klugscheißerei am Morgen: die Macadamia-Nuss ist nach Herrn John Macadam benannt.
https://de.m.wikipedia.org/wiki/John_Macadam
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Ein Namensvetter. Dankeschön, das wusste ich nicht. Mir ist sogar die Macadamia-Nuss fremd.
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Linker Humanismus ist sehr viel besser als rechter Nationalismus, auch wenn er naiv anmutet. Fair gehandelten Kaffee zu trinken löst nicht die Weltprobleme und rettet keinen Flüchtling aus dem Mittelmeer – wir alten Säcke wissen, daß globale Verwerfungen nicht individuell lösbar sind. Aber was ist die Alternative? Vielleicht bringt es langfristig doch was, klein anzufangen, also das Grillen mit einer politischen Botschaft zu verbinden, auch, wenn es lächerlich erscheint, wer weiß … Ich habe schon Initiativen gesehen, die mehr Wirkung gezeigt haben, als ich jemals für möglich gehalten hätte.
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Ich danke dir sehr für deinen Kommentar, mit dem du einiges zurechtrückst, was sich Resignatives bei mir angesammelt hatte.
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Wenn ich mit dem Rad unterwegs bin, was ich im Sommer viel bin, dann muss ich ab und zu übers Kopfsteinpflaster. So schön es anzusehen ist, wirbelt es meine Gedanken derart durcheinander, dass ich danach nicht mehr weiß, was ich vor dem Kopfsteinpflaster gedacht habe … 😉
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Das ist hübsch beschrieben. Geht mir ähnlich, nur sinds bei mir keine Gedanken, sondern Rückenwirbel. Naja, was müssen die auch -wirbel heißen.
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