Plädoyer für Toleranz gegenüber dem Fehler – Fehlerwoche (5)

Den ehemaligen Direktor des Germanistischen Instituts der Uni Hannover, Prof. Dr. Carl Ludwig Naumann kannte ich noch aus seiner Zeit an der RWTH Aachen. Beinahe wäre ich in Hannover sein Doktorand geworden, wenn mich nicht gesundheitliche Probleme ausgehebelt hätten. Naumann hatte sich dem Orthographieunterricht gewidmet, weil die Rechtschreibleistung die einzig objektive Benotung erlaube. Klar, die Anzahl der Rechtschreibfehler im Diktat oder Aufsatz lässt sich ermitteln, aber rechtfertigt das die beinahe pathologische gesellschaftliche Fixierung auf Rechtschreibung?

Während meines Studiums in Aachen waren die Sprachwissenschaftler um den Schweizer Germanisten Hans Glinz bestrebt, ich glaube auch Carl Ludwig Naumann gehörte dazu, die Bedeutung der Rechtschreibung für den Unterricht zu relativieren. Einmal erlebte ich Hans Glinz im Karmann-Auditorium der RWTH Aachen. Ganz arglos hatte er sich darüber ausgelassen, wie unwichtig Rechtschreibung doch sei, als in der nachfolgenden Aussprache mit Studierenden ein Sturm der Entrüstung auf ihn niederging. Er hatte ganz sicher nicht mit soviel Unverstand gerechnet, so dass er völlig unvorbereitet war. Wo er sich eine intelligente Auseinandersetzung mit seinen Argumenten vorgestellt hatte, sah er sich mit all den alten Vorurteilen konfrontiert. Glinz hinter seinem Stehpult sah zum Auditorium hoch, als hätte er eine Lawine losgetreten und gottergeben leistete er nur noch pro forma Widerstand.

Was sind die „alten Vorurteile?“ – Die Ehrfurcht vor der Wortgestalt hat eindeutig sprachmagische Wurzeln. In der hebräischen Mythologie gibt es die Vorstellung von der wahren Bezeichnung der Dinge, deren Form durch Laut und Schrift bestimmt ist. Da dort die Buchstaben gleichzeitig Zahlzeichen sind und diese Zahlen die wahren Verhältnisse und Proportionen der Schöpfung bezeichnen, darf an der Erscheinungsform der Wörter natürlich nichts geändert werden. Diese Vorstellung ist in der Antike auf die Alphabetschrift übergegangen und schwingt noch heute mit, wenn Alphabetbenutzer die Buchstabenfolge eines Wortes für gottgegeben und unveränderlich ansehen. Die kindliche Vorstellung, dass ein Wort identisch mit der bezeichneten Sache ist, ergibt sich beim Sprachlernprozess, ohne dass der Einzelne sich bewusst machen kann, woher sie kommt.

Dem steht die Erkenntnis der modernen Sprachwissenschaft entgegen, dass Wörter und deren Schreibweise von Menschen gemacht, im Laufe von Jahrtausenden verändert worden sind, wobei die absurdesten Einflüsse vorlagen. So soll aus arab. Samt oder Zemt durch einen Fliegenschiss über dem 3. Beinchen des M das klangvolle Wort Zenit entstanden sein. Das Wort Tisch hat nichts Tischförmiges. Der Tisch könnte auch Rasierpinsel heißen. Nur dieser Umstand ermöglicht ja verschiedene Sprachen, mit denen Erscheinungen einer relativ gleichartigen Realität bezeichnet werden.

34 Jahre alter Spiegeltitel (Juni 1984) – anders als im Cartoon ging es in der Titelgeschichte um Rechtschreibung

Gerade, wenn das Kind mit etwa fünf Jahren sein magisches Verhältnis zur Welt aufgibt und logische Zusammenhänge entdeckt, lernt es in der Schule, dass es nur eine Wortgestalt gibt, festgelegt in der Rechtschreibung, wobei „recht“ mit „richtig“ gleichgesetzt wird. Dass unsere Rechtschreibung von Konrad Duden im Auftrag des Kaiserreichs und mit Unterstützung der Buchdruckerei-Verbände am Anfang des 20. Jh. geschaffen wurde, wissen sogar viele Lehrkräfte nicht. Vor allem wissen sie kaum etwas davon, dass die wechselnden Dudenredaktionen die amtliche Orthographie eigenmächtig weiterentwickelt und immer komplizierter gemacht haben. Mit der daraus folgenden Rechtschreibunsicherheit ließ sich viel Geld verdienen, und Jahrzehnte war der Duden das meistverkaufte Buch nach der Bibel.

Entsprechend heftig wurde die Orthographiereform in der Öffentlichkeit diskutiert. Da konnte und kann man immer wieder die Behauptung hören, dass die deutsche Sprache Schaden nehme, wenn man ihre Orthographie verändert. Die wissenschaftlich unumstrittene Erkenntnis, dass die Schreibweise eines Wortes beliebig ist und nur auf Konvention der Sprecherinnen und Sprecher beruht, wird durch die in der Schule vermittelten Reste des magischen Denkens bestritten. Demgemäß ist die Fixierung auf Orthographie primitiver Wortaberglaube.

Überdies kommt es durch die Vertrautheit mit Wortbildern zu einer Gleichsetzung von Form und Inhalt; die bildhafte Vorstellung wird quasi übermächtig. So behauptete einmal ein Leserbriefschreiber in der FAZ, das Wort Meer dürfe man nicht seines Doppelvokals berauben. Ohne das Dehnungszeichen „ee“ würde „Meer“ den Eindruck der Weite nicht mehr vermitteln. Man kann diese Behauptung leicht widerlegen. In Wahrheit geht es hier um Gewöhnung an ein Wortbild. Beim Wort „Wal“ fehlt beispielsweise ein Dehnungszeichen. Trotzdem denkt man beim Lesen von „Wal“ an ein ziemlich großes Säugetier. Nach der These des Leserbriefschreibers müssten wir „Waal“ schreiben. Auch kann ein Tal sehr tief und weit sein. Wäre Taal in Angleichung an den ähnlichen Laut in “Saal” wirklich passender?

Das Festhalten an einer bestimmten Schreibweise ist völlig legitim. Der einfache Schriftbenutzer unterwirft sich einem vertrauten Wortbild. Er wird jede Veränderung, auch eine objektive Verbesserung subjektiv zunächst als Verschlechterung erleben, weil sie seine Vorstellungen zerstört und ihm die Schrift entfremdet.

Ein bisschen mehr orthographische Toleranz würde uns allen guttun, doch dem steht entgegen, dass jeder von uns in der Schule mit der amtlichen Rechtschreibung gequält wurde. Ihre gute oder nicht ausreichende Beherrschung hat über die Diktatbenotung Lebenswege beeinflusst und Schicksale geprägt. Dann will man wenigstens die Gewähr, dass die Gesetze weiterhin gelten, nach denen man beurteilt und gerichtet worden ist. Darum ist es so schwierig, die öffentliche Akzeptanz für eine Rechtschreibreform zu erreichen. Wer mal wegen “selbstständig” (alte Rechtschreibung = selbständig) eine schlechte Diktatnote bekommen hat, mag nicht akzeptieren, dass er nach der Reform schreiben soll, wofür man ihn einst als Deppen verschlissen hat. Ich plädiere für Toleranz, doch beherrsche sie swelber nicht. Wenn ich nachträglich in einem Blogtext einen Fehler entdecke, habe ich nicht eher Ruhe, bis ich ihn korrigiert habe.

(Nächstens: Wie die Schule uns alle zu Beckmessern macht)

22 Kommentare zu “Plädoyer für Toleranz gegenüber dem Fehler – Fehlerwoche (5)

    • Danke für die unterstützende Ergänzung durch die Außensicht. Zum Glück hat der Duden mit der Reform seine Monopolstellung verloren, die amtliche Orthographie betreffend. Kurios war schon, dass man einem privatwirtschaftlichen Verlag quasi die Oberhoheit über die Orthographie verliehen hatte.

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  1. Mir fällt die totale Verwirrung ein, wenn Leute die Kreisstadt meines Heimatdorfes aussprechen müssen. „Zösfeld“ sagen die unwissenden Menschen dazu, „Koosfeld“ die wissenden. Geschrieben wird es „Coesfeld“. Das Dehnungs-„e“ contra der Umlautumschreibung „oe“ für „ö“. Vokale können Dehnung in der Sprache bedeuten wie das „i“ in Troisdorf (bei Bonn).
    Hier gibt es ein Kaff, welches „Buchloe“ geschrieben wird. Aber ungewöhnlicherweise (für die bayrische indigene Bevölkerung) wird es weder „Buchlö“ noch „Buchloo“ ausgesprochen, sondern „Buchlo-e“.
    Und da gefällt mir eine Regelung des Dudens: man kann keine Namen (von Personen oder Orten/Städten) falsch schreiben, solange man das Wort an sich geschrieben nicht kennt. Und hier schlägt bei bestimmten Menschen der rassistische Sprachfaschismus zu: wer Worte per se nicht richtig beherrscht, der gehört nicht zum Volkskörper. Außer es sind Bayern, Sachsen, Westfalen, Börlina, Schlickrutscher, Hesse, Schwoaben, Kölner, Öcher, Plattdeutsche, Flachdeutsche, Dummdeutsche …
    Jo, mei, des woar oawei net richtig deutsch, hoast mi. Raussi musstu, Rausländer, du …

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    • Ja, die unbekannten Dehnungszeichen in alten Ortsnamen sorgen für Verwirrung. In meiner Heimat ist das Dehnungs-i in Grevenbroich sogar dem WDR unbekannt. Allerdings wurde die falsche Aussprache „Grevenbro-ich“ statt korrekt „Grevenbrooch“ durch Kerkelings Figur Horst Schlämmer in die deutschen Wohnzimmer transportiert.
      Der Duden hatte übrigens nie das Recht, die Schreibweise von Ortsnamen und Namen überhaupt zu regeln. Nachdem der Cölner Stadtrat die eindeutschende Schreibweise Köln beschlossen hatte, versuchte die Mannheimer Dudenredaktion auch der Stadt Cuxhaven die Eindeutschung „Kuxhaven“ zu verpassen und verzeichnete diese Schreibweise in der 14. bis 16. Auflage. Derlei Arroganz hat man auch gegenüber eingedeutschen russischen Namen wie Tschaikowsky an den Tag gelegt und verzeichnet in einer Fußnote: „So die eigene Schreibung des Komponisten. Nach dem vom Duden verwendeten Transkriptionssystem müsste Tschaikowski geschrieben werden.“ Die Duden-Schreibweise hat sich inzwischen durchgesetzt, weil Tschaikowsky sich nicht mehr wehren kann.

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    • Sehr schön auch das Dehnungs-ck in Mehklenburg (nicht Mäcklenburg) oder Bleckede an der Elbe. Und das stumme w im Auslaut von Ortsnamen wie Pankow oder Lüchow. Und das unschlagbare Bad Oeynhausen mit einer fast englisch anmutenden Vokalhäufung, die doch nur ein schnödes ö darstellen.

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  2. Ein sehr schöner Text, lieber Jules, auch – und vielleicht gerade – in den Augen einer Lektorin, die mit den Rechtschreibfehlern anderer einen Teil ihres Lebensunterhaltes verdient. Gewöhnung spielt sicher eine nicht zu unterschätzende Rolle, und was Du über Sprachmagie schreibst, hängt ganz eng damit zusammen (die normative Kraft des Faktischen). Ist die Konvention erst einmal emotional besetzt, läßt sie sich so schnell nicht wieder lockern.
    Übrigens ist in Deinem Text das Wort „swelber“ in der zweitletzten Zeile falsch, aber ganz offensichtlich kein Rechtschreibfehler aus Unkenntnis, sondern ein Tippfehler.
    Daß die Dame oben links immer noch im wunderschönen Monat Mai zu leben scheint, finde ich beunruhigender.

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    • Dankeschön, liebe Dorothea. Dass im Header noch immer „Mai“ steht hast nur du angemahnt. Deinem prüfenden Auge ist natürlich auch der Tippfehler „swelber“ nicht entgangen. Er ist meinem grobmotorischen Tippen geschuldet, weil die Tasten w und e nebeneinander liegen. Ich musste mich zwingen, den Fehler unkorrigiert zu lassen, was mir nur gelang, weil er eindeutig als Tippfehler erscheint. 😉

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      • Mit anderem Browser steht das Wort mit dem Tippfehler jetzt übrigens in der drittletzten Zeile, aber von mir aus kannst Du es gerne korrigieren. Letztlich ist es mit den Fehlern wie mit dem Schwarzfahren: man muß Strafe zahlen, egal, ob man absichtlich schwarzfährt oder lediglich vergessen hat, die Fahrkarte abzustempeln.

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  3. ganz deiner meinung. als elternteil mit schulkindern, finde ich die quälerei mit der rechtschreibung allerdings notwendig. schlimmer noch, als gestalter, stelle ich auch noch den anspruch auf ein ansehnliches schriftbild und damit quält nicht nur die Lehrerschaft das zarte kindsgemüt, nein, auch die fiesen alten schlagen gnadenlos auf hässliche und falsche buchstaben ein. da muss der nachwuchs die lektoren nicht so fürchten, wie das der fiese alte tut;)

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    • Bei meinen Kindern habe ich es gehalten wie du. Man darf ihnen nichts aufbürden, was gesellschaftlich nicht toleriert wird. Wir Typografen wissen natürlich auch, dass Fehler in Drucksachen Augennägel sein können. Du erinnerst dich vielleicht noch an den Slogan in der Hulstkamp-Korn-Werbung „Hilft dem Vater auf das Fahrad.“ Das fehlende R erregte damals viel Aufmerksamkeit und ist mir nachhaltig in Erinnerung geblieben.

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      • auch wenn ich schon einigermaßen alt bin erinnere ich mich nicht, aber als quasi reklame-sammler würde mich die hulstkamp-korn-reklame schon sehr interessieren. „hilf dem alten aufs fahrrad“ ist schon ein echter brüller! das hätte ich mir ziemlich sicher gemerkt. lol

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  4. Pingback: Beckmesser, Klugscheißer und arme Socken – das Ergebnis unseres Rechtschreibunterricht

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