Über das Begraben der Leichen im Blei

Meine lieben Damen und Herren,
das Wort LEICHE – meint in der bildereichen Druckersprache ein vom Setzer vergessenes Wort im Drucksatz. Das nachträgliche Einfügen der versehentlichen Auslassung heißt: Eine Leiche begraben. Eine Leiche zu begraben konnte im Bleisatz mit der Hand sehr viel Zeit und Mühe kosten, wenn sie nämlich im fortlaufenden Blocksatz vergraben werden musste und der nächste Absatz in weiter Ferne lag. Eine schöne Anekdote über das Begraben einer Leiche steht in Mark Twains Autobiographie.

Twain arbeitet als Schriftsetzer in der Druckerei einer Kleinstadt. Der berühmte Gründer der Campbelliten, Alexander Campbell, aus Kentucky kommt in die Gegend und erteilt der Druckerei den Auftrag, eine seiner Predigten zu drucken. Twain berichtet:

Wir druckten die ersten acht Seiten an einem Donnerstag. Dann setzten wir die restlichen acht, legten sie in die Schließplatte und machten einen Probeabzug. Wales las ihn und stellte mit Schrecken fest, daß ihm eine „Leiche“ unterlaufen war. Es war eine ungünstige Zeit dafür, denn es war Samstag, kurz vor Mittag, und Samstagnachmittag hatten wir frei und wollten zum Angeln gehen. Ausgerechnet jetzt mußte Wales eine „Leiche“ passieren! Er zeigte uns, was geschehen war. Er hatte in einer engzeilig bedruckten Seite mit durchgehendem Text zwei Wörter ausgelassen. Erst zwei oder drei Seiten danach kam ein Absatz. Was um alles in der Welt sollten wir bloß tun? All diese Seiten neu zu umbrechen, um die zwei Wörter einzufügen? Das würde eine Stunde dauern. Dann mußte dem großen Prediger ein Korrekturabzug übersandt werden, wir mußten warten, bis er ihn gelesen hatte, und dann die Fehler korrigieren, die er eventuell entdecken würde. Es sah aus, als ob wir den halben Nachmittag drangeben müßten, bevor wir uns davonmachen konnten.

Da hatte Wales eine seiner blendenden Ideen. In der Zeile, in der er etwas ausgelassen hatte, kam der Name Jesus Christus vor. Wales kürzte ihn nach französischem Muster ab: J. C. Jetzt hatten wir Platz für die ausgelassenen Wörter, aber nun fehlten in einem besonders feierlichen Satz 99 Prozent der Feierlichkeit. Wir ließen den Korrekturabzug wegbringen und warteten. Aber nicht lange. Unter diesen Umständen hatten wir vorgehabt, zum Angeln zu gehen, bevor der Abzug zurückkam, aber wir waren nicht schnell genug. Plötzlich erschien am anderen Ende des fast zwanzig Meter langen Raumes der große Alexander Campbell mit einem Ausdruck im Gesicht, der Düsterkeit verbreitete. Er schritt auf uns zu, und was er sagte, war kurz, aber sehr streng und unmißverståndlich. Er erteilte Wales eine Lehre. Er sagte: „Solange du lebst, vermindere nie mehr den Namen des Erlösersl Schreib‘ ihn immer ausl“ Er wiederholte diese Ermahnung mehrmals, um sie stärker wirken zu lassen. Dann ging er.

Soweit Mark Twain. Die gotteslästerliche Geschichte geht noch weiter, man lese sie ganz in seiner Autobiographie, zugestellt v. Charles Neider, dt. Diogenes 1985 v. Gertrud Baruch. Heute vergraben moderne Textverarbeitungen eine Leiche so schnell, dass man gar nicht sieht, wie es geht. Schwupp ist sie weg. Alles geht so leicht, dass es schon ganz obszön ist. Diese Plastizität digitaler Texte gibt uns die Möglichkeit, unsere Tippfehler, Auslassungen und Rechtschreibfehler spurlos zu beseitigen. Die Kommentarkästen in fremden Blogs, die keine Korrektur erlauben, sind die letzten Reservate für die einst so frechen Druckfehler. Darum soll die kommende Woche im Teestübchen ganz im Zeichen des Fehlers stehen.

Schöhnes Wochenände!

37 Kommentare zu “Über das Begraben der Leichen im Blei

  1. Eine Leiche…das merke ich mir. Klingt viel interessanter als ein vergessenes Wort.
    Heute bekam ich mein Skript vom Lektorat zurück. Mit Korrektur-Nachverfolgung…ich bin heute sehr beschämt. 🙈 Man möchte meinen, mit Worten habe ich es so gar nicht. Es grüßt dich Mitzi, die Meisterin aller Tippfehler.

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    • Mach dir nichts draus, liebe Mitzi. Wer später dein Buch in den Händen hält, fragt nicht nach der Manuskriptfassung. Mit der Korrektur-Nachverfolgung reiben sie dir die Fehler unter die Nase, was nicht nötig wäre, dir aber demonstrieren soll, was man geleistet hat. Deine Beschämung kann ich nachvollziehen. Sie ist uns allen schulisch vermittelt. Aber Menschen machen nun mal Fehler. Und weil du viel schreibst, fällt es bei dir eher auf als bei anderen. Ich selbst bin ein wirklicher Vertippdepp und froh, meine Texte meistens korrigieren zu können – außer eben in fremden Kommentarkästen.

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  2. Moderne Textverarbeitungen mögen ja den Vorteil haben, diese Leichen schnell verschwinden lassen zu können. Allerdings steigt durch sie nicht gerade die typographische Qualität, meint doch ein jeder, der die grausamste aller Textverarbeitungen auf seinem Rechner installiert hat, er könne jetzt „wie ein Profi“ Texte gestalten.

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    • Die typografische Qualiträt unsere Drucksachen hat leider nicht mit den Fortschritten in der Layout-Software Schritt gehalten. Es sind auch im professionellen Bereich zuviele Stümper am Werk. In keinem anderen Medium wird die Formensprache derart vernachlässigt wie in der Schrift.

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  3. Die Geschichte von Mark Twain ist ein wunderbares Beispiel dafür, mit welchen Unbillen Menschen früherer Generationen zu kämpfen hatten. Wofür ich heute zwei Sekunden benötige, mussten sie womöglich die Freizeit eines kostbaren Samstag Nachmittages opfern. Da lobe ich mir den Fortschritt! 🙂

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    • Das betrifft so viele Sachverhalte. Wenn ich früher eine Information brauchte, fuhr ich eigens zur Bibliothek. Da war ein ganzer Nachmittag mit verbunden. Heute genügt eine Suchphrase bei Google. Letztens lud ich mir das 10-bändige Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens als PDF auf den Rechner. Es geht freilich eine haptische Qualität verloren, das Begehen einer Bibliothek, Zufallsfunde. Begegnungen, ein Buch aufzuschlagen, die Seiten umzuwenden und dergl.

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      • Die haptische Qualität bleibt ja, es gibt Bücher, Bibliotheken, Zufallsfunde – kurz: alles was es früher gab, plus das Digitale. Die Möglichkeiten sind schier unbegrenzt. Manchmal stelle ich mir vor, ich erzählte meinem Urgroßvater von den heutigen Möglichkeiten. Ich glaube, ihm erschiene es als das Paradies.

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          • Das stimmt – man verhält sich heute anders als vor 20 Jahren. Ich persönlich empfinde das als große Bereicherung, denn obgleich vieles ja tatsächlich verschwindet (Wissen und Objekte), ist vieles von dem, was mir lieb und teuer ist, noch immer da, und ich kann mich frei für oder gegen dieses oder jenes entscheiden. Ich kann über die Bibliothek elektronische Ressourcen von zuhause lesen, und ich kann mich in den Lesesaal setzen und in den alten, sehr alten Büchern blättern. Für mich wird’s erst kriminell, wenn ich z. B. ein Facebook-Konto bräuchte, um mit dem Bürgeramt o. ä. in Kontakt zu treten. Eine Zeit lang sah’s fast danach aus, aber ich denke, bei aller Kritik an Facebook, ist das vom Tisch.

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  4. Solange Menschen schreiben, werden sie auch Fehler produzieren. Am PC vielleicht mehr, als das je zuvor der Fall war, denn trotz der Korrekturmöglichkeiten, die ich als Student gern gehabt hätte, scheint es Fehlern zu gelingen, sich am Bildschirm besser zu verstecken, als das auf Papier je möglich war. Und das ist gut so, weil es auch Spaß macht. Der fehlerhafte Text findet seinen Weg vom Bildschirm aufs Papier, wird dort nicht mehr lektoriert und landet so in der Zeitung oder im Buch. Die Perlen des Lokaljournalismus leben davon, der Hohlspiegel auf der letzten redaktionellen Seite des Spiegels ebenfalls.

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