Man glaubt es kaum, die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der Berliner CDU (MIT) glänzte jüngst mit dem christlichen Vorschlag, Hartz-IV-Empfängern unter 50 die staatliche Unterstützung zu streichen. Es wäre ein Grund gewesen, sich zu empören. Doch es geschieht nicht. Denn Hartz-IV-Empfänger sind unsere neuen Aussätzigen. Zur neoliberalen Strategie gehört, die Verlierer der Agenda 2010 verächtlich zu machen, ihre Nöte herabzuwürdigen in medialen Kampagnen der Springer-Presse und mit Gallionsfiguren wie Thilo Sarrazin und Jens Spahn. Auch das „Deutschland-geht- es-gut-Geschwafel“ der Bundeskanzlerin spart einen Teil der Gesellschaft aus und erklärt Verlierer zu Unpersonen. Das Bild des faulen Hartz-IV-Empfängers, der nichts Ordentliches schafft, sondern den ganzen Tag im Bademantel herumläuft, an der Bierflasche nuckelt und dummes Zeug verzapft, wird auch entscheidend geprägt durch die populäre Kunstfigur „Ditsche“ des Olli Dittrich, die passend zum Start von Schröders Agenda 2010 seit 2004 die öffentlich-rechtlichen Programme rauf- und runtergesendet wird. Dieser inhumane, würdelose Mist wird mit Medienpreisen überhäuft, was nur geht, wenn man einen entscheidenden Unterschied vergessen hat: Guter Witz ist, mit den Schwachen zu lachen und nicht über sie. Inzwischen sind wir derart verroht, dass uns das Zerrbild der Schwachen in unserer Wertegemeinschaft gar nicht mehr störend auffällt, wobei „Wertegemeinschaft“ ein verlogener Euphemismus ist, der eigentlich Werte- und Unwertegemeinschaft bedeutet. Die Unwerte werden uns nicht nur vorgelebt wie jüngst durch die Akteure im VW-Abgasskandal, sondern auch, indem eine Figur wie der Cum-Ex-Betrüger Carsten Maschmeyer hemdsärmlich von Plakatwänden grüßt und in TV-Sendungen hofiert wird. Das Wortspiel „ärmlich“ muss hier leider sein.
Die gewollte Armut in Deutschland wird durch Initiativen wie die Tafel unterstützend begleitet, dass aber in Deutschland die Menschen nicht protestierend auf die Straße gehen, ist letztlich ein Verdienst der „Alles-Billig“-Discounter. Discounter kaufen unter anderem auch Ware aus dem Ausland, und indem sie fast nichts dafür bezahlen („Das Geld wird im Einkauf verdient, hehe!“), importieren sie Waren und exportieren die deutsche Armut. Das gilt auch und besonders für Discounter der Modebranche wie KIK und Primark.
Ein weiterer Unwert ist durch die „Geiz-ist-geil“-Kampagne eines Elektronik-Discounters verbreitet worden. Wer „Geiz ist geil“ in Ordnung findet, findet auch nichts dabei, dass es Menschen gibt, die für ihre Arbeit nicht richtig bezahlt werden, dass es nicht nur in Deutschland, sondern weltweit ein Heer erbärmlich schuftender Billiglöhner gibt. Der „Geiz-ist-geil“-Verblendete findet es nicht skandalös, dass Deutschland den größten Billiglohnsektor Europas hat, sondern konsumiert fröhlich, was andere Menschen mit bitteren Existenzsorgen bezahlen. Das herumschleichende Gespenst heißt Entsolidarisierung und verseucht alle, die seinen Ungeist einatmen.
Dabei trifft es auf die weit aufgerissenen, schnappenden Mäuler der „Hauptsache-ihr-habt-Spaß“-Infantilen, und weil ein aufgerissenes Maul das menschliche Antlitz zum Zerrbild macht, schaut von denen niemand mehr in den Spiegel und reflektiert mal sein tägliches Handeln. Stattdessen posiert man für Selfies. Im TV wurde über Wasserknappheit in der Region Stade berichtet. Der Trinkwasserverband appellierte an seine Kunden, auf Rasen sprengen und Auto waschen zu verzichten. Ein Bauer, bei dem nur noch ein Rinnsal aus dem Wasserhahn tropfte, so dass die Melkmaschine nicht funktioniert und er seine Kühe nicht tränken konnte, fand befremdlich, dass Leute sich „bei Facebook abfeiern, sie würden ihren Rasen trotzdem weiter sprengen.“ Der Mann sprach von „sozialen Medien.“Im Mikrobloggin dieser „sozialen Medien“, wo nicht weiter gedacht werden muss als bis zur eigenen Nasenspitze, finden wir einen Gradmesser für den verheerenden Zustand unserer Gesellschaft. Denn seit Jahren wird sie unter dem neoliberalen Credo umgebaut zu etwas Hässlichem. Ihre Hässlichkeit färbt leider ab, und so sind weite Teile unserer Eliten sehr sehr hässlich. In deren Raubtierwelt, wie sie uns mustergültig vorgeführt wird im TV-Format „Die Höhle der Löwen“ ist Solidarität nicht opportun. Jeder sei nur auf seinen Vorteil bedacht. Wenn einer aus der Herde gerissen wird, sieht der Rest der Herde gleichmütig mampfend zu. Genauso gleichgültig schaufelt der tumbe Gierhals, der wenigstens in seiner Freizeit auch mal Löwe sein will, Billigfleisch auf seinen Tankstellengrill, obwohl er schon von den barbarischen Bedingungen der Billigfleisch-Erzeugung und -Verarbeitung gehört hat. Der Pestvirus, an dem die Menschheit zugrunde gehen wird, heißt Spaß, Egomanie und Entsolidarisierung.
Zum neoliberalen Umbau der Gesellschaften gehört auch die DSGVO, die mit der Impressumspflicht für Blogs exakt das Gegenteil der erklärten Absicht bewirkt. Man stelle sich nur vor, wie es den ungarischen Bloggerinnen und Bloggern in Orbanland ergeht oder denen in Polen oder auf Malta. Dort Widerstand zu leisten, bedroht mehr als die Geldbörse, was ja bei uns den größten Schrecken verbreitet. Man wünscht sich eine wache Zivilgesellschaft wie in den 1980-er Jahren, die durch massenhafte Verweigerung die Volkszählung verhindert hat. Kollege Pantoufle verlinkte in einem Kommentar zum Nettesheim-Dialog zu einer Liste von 320 bereits aufgegebenen Blogs. Völlig ignoriert vom herrschenden Kulturbetrieb, verbrennen Tausende digitaler Bibliotheken. Es stirbt eine bunte lebendige Netzkultur, und Blogs werden in naher Zukunft nur noch eine Fußnote der Mediengeschichte sein, wenn wir keine Lösung des Problems finden. Eigentlich hülfe Solidarität aller Bloggerinnen und Blogger. Ersatzweise eine Klage vor dem Menschenrechtsgerichtshof der EU.