Zwitschern, Zirpen, Flöten, Gurren, Buchstabieren – Der Merzkünstler Kurt Schwitters und sein Werk

Irgendwann in den 1950-er Jahren, ich war noch sehr klein und spielte in unserer Wohnküche, derweil das Radio lief. Plötzlich horchte ich auf, denn aus dem Radiolautsprecher kamen höchst merkwürdige Töne, menschliche Laute ohne Sinn, aber melodisch. Vermutlich war es die „Ursonate“, vorgetragen von Kurt Schwitters. Erst 20 Jahre später im Kunststudium bin ich dem phänomenalen Werk wieder begegnet. Die einzig existierende Originalaufnahme, von Schwitters selbst intoniert, wurde heute vor 86 Jahren, am 5. Mai 1932 in Stuttgart von der Reichsrundfunkgesellschaft aufgezeichnet. Der Hannoveraner Dadaist Kurt Schwitters ist seit Januar 70 Jahre tot, aber durch Kollegin Karfunkelfees Kommentar zu meinem Eintrag über Vogelgesang wurde ich wieder an ihn, seine Ursonate, die Stare und überhaupt an sein Werk erinnert.

Man weiß von Staren, dass einige das Zwitschern von Handys nachahmen. Ich habe bereits in den 1990-er Jahren von einem Dänen gelesen, der einen Star in seinem Garten auf den Namen Nokia getauft hatte, weil der Vogel das Handyklingeln täuschend echt imitieren konnte. Stare sind gelehrige Vögel, und sollten sie zufällig auf der norwegischen Insel Hjertøya leben, dann intonieren sie vielleicht immer noch die Ursonate von Kurt Schwitters. Schwitters lebte dort von 1933 bis 1936 in einer Hütte im Exil, wo er an seinem zweiten Merzbau arbeitete. Sein Freund, der elsässische Dadaist Hans Arp, berichtete einmal, wie er Schwitters auf der Insel Föhr erlebt hatte. „In der Krone einer alten Kiefer am Strande von Wyk auf Föhr hörte ich Schwitters jeden Morgen seine Lautsonate üben. Er zischte, sauste, zirpte, flötete, gurrte, buchstabierte.“

Möglicherweise hörten also die Stare von Hjertøya interessiert zu, wenn Schwitters so ganz für sich die Ursonate intonierte. Und eventuell gaben sie die neuen Laute von Generation zu Generation weiter. Jedenfalls staunte der Berliner Künstler Wolfgang Müller nicht schlecht, als er 2001 die Insel besuchte und von den Staren die Ursonate gezwitschert bekam. Er nahm sie auf Tonkassette auf und veröffentlichte später eine CD mit dem Titel: „Hausmusik – Stare aus Hjertøya singen Kurt Schwitters.“ Müller bekam damals Urheberrechtsprobleme mit den Rechteverwaltern der Schwitters-Erben. Sie sind ungefähr so freundlich wie die Disney-Erben, die ja auch jede kleine Schülerzeitung abmahnen, die einmal einen Donald abdruckt. Doch am Ende ließ man Müller gewähren, denn es war juristisch zweifelhaft, ob man den Staren verbieten kann, eine CD herauszubringen, worauf sie Schwitters imitieren. Müllers Aktion war jedenfalls durchaus verdienstvoll. Auf diese Weise geriet ja nicht nur er, sondern auch Kurt Schwitters wieder in die Presse. Denn gemeinhin kennt und schätzt man Schwitters im Ausland mehr als bei uns.

Vor nun zehn Jahren bin ich von Aachen nach Hannover gezogen, einer Beziehung wegen, aber es reizte mich auch, in der Stadt zu leben, in der Kurt Schwitters gelebt und gearbeitet hat. In den 1990-er Jahren, als ich noch Tagebuch schrieb, habe ich es gemacht wie Schwitters, wenn ich durch die Stadt bummelte, nur war ich dabei nicht so konsequent wie er. Schwitters hob ständig Papierobjekte von der Straße auf, sammelte so gut wie alles, was ihm in die Finger kam. Vieles davon verarbeitete er in seinen Collagen und Assemblagen. Größere Objekte fanden ihren Platz in seinem berühmten Merzbau.

Anfangs hieß die Skulptur „Kathedrale des erotischen Elends.“ Da stand sie noch auf einem Sockel. Schwitters war verheiratet, und man kann sich denken, warum die Skulptur so hieß. Wer bei Schwitters zu Besuch war, musste irgend etwas von sich dalassen. Schwitters richtete beleuchtete Kammern für die Objekte ein. Es befand sich auch ein Fläschchen Urin darunter. Von wem diese Körperausscheidung stammte, weiß ich leider nicht mehr. Die Kathedrale wuchs, und irgendwann ließ Schwitters die Decke durchbrechen, damit sein Merzbau weiter wachsen konnte. Dann wuchs der Bau auch in einen Nebenraum. Später ließ Schwitters den gesamten Merzbau kubistisch verkleiden und weiß anstreichen. Teile davon waren begehbar. Leider existieren nur wenige Fotografien davon, denn der Merzbau ist bei einem Bombenangriff verbrannt. Im hannoverschen Sprengelmuseum gibt es einen Nachbau, auf der Grundlage von wenigen Fotografien. Man kann den Merzbau betreten. Er wird in Intervallen unterschiedlich beleuchtet. Das ist auf jeden Fall beeindruckend, obwohl der Bau kein Innenleben hat wie der echte. (Gif-Animation: JvdL)

Wenn eine Sprache in Wörterbüchern verzeichnet ist, sterben manche Wörter nicht völlig aus, sondern sind nur eine Weile scheintot. In den 50er Jahren galt das Wort Kommerz als ausgestorben. Der Duden verzeichnete es nicht mehr, denn es war nicht mehr im Gebrauch. Ende der 60er tauchte Kommerz wieder auf, und zwar in der Verbindung Kunst & Kommerz. Die deutsche Commerzbank trägt das Wort in ihrem Namen. Kurt Schwitters hat den Schriftzug der Commerzbank genommen, zerschnippelt und „merz“ in eine seiner Collagen eingebaut. So bekam seine Kunst ihren Namen. Er wirkt freundlich wie Schwitters selbst. Die Assoziation zu dem Wort März ist durchaus gewollt. Denn es steckt etwas von Frühling und Aufbruch in der Merzkunst. Es passt, dass Stare die Ursonate trällern.

Merz ist von der Anlage her keine Antikunst wie der Dadaismus. Schwitters hatte etwas anderes im Sinn: „Im übrigen wissen wir, daß wir den Begriff Kunst erst los werden müssen, um zur Kunst zu gelangen.“ Ihm ging es also um eine neue Form der Kunst. Das Material für die Merzkunst stammt aus dem Alltag. Da ist kein vorgefundener Fetzen zu gering. Er wird in Form gebracht und fügt sich ein in die Bildkomposition. Diese Collagetechnik wendet Schwitters auch auf die Laute an. Die Laute der menschlichen Sprache werden bei ihm zu Klangelementen ohne inhaltliche Bedeutung. Bei Youtube fand ich die Originalaufnahme der Ursonate, die Schwitters am heutigen 5. Mai vor 86 Jahren aufnahm.

Tretet dAdA rein!

15 Kommentare zu “Zwitschern, Zirpen, Flöten, Gurren, Buchstabieren – Der Merzkünstler Kurt Schwitters und sein Werk

  1. Lieber Jules,
    Wenn ich Spanisch übe, klingt das so ähnlich wie Kurt Schwitters Ur-Sonate. Ich ließ sie eben laut laufen. Mein Sohn hörte es und wollte von mir wissen, was das sei? Hat der ein Sprachproblem? Ein Sprachproblem haben wir alle!, konterte ich laut grinsend und verteidigte Kurt Schwitters, brach der Ur-Sonate einen Lanzenwald und klärte das Zartgemüse von Sohn über die Stare, Norwegen und die Bedeutsamkeit von Kurt Schwitters Ur-Sonate auf. Es klingt zu schön – da höre ich gerne hin – wie ein Star und stelle mir die Schwärme vor wie Chöre. Wie begeistert wäre Kurt Schwitters, wüsste er, dass seine Sonate von den begeistert uraufgeführt und nachgesungen worden ist. Er war wohl ein geduldiger Lehrmeister und er schuf mit seiner aus dem zerschnittenen Wort ‚Kommerz‘ übrig gebliebenen ‚Merz‘ seine ihm ganz eigene Dada-Entsprechung. Ich fand vor ein paar Tagen einen zerknüllten Herzkönig beim Treppenhauswischen. Ich hob ihn auf, faltete ihn auseinander und steckte ihn in den Christusdorn am Küchenfenster mit der schönen Aussicht. Habe nämlich auch den schwitter‘schen Sammeltrieb und horte persönliche Dinge, die mir zur Verwahrung anvertraut wurden. Auf Umwegen fand Rosenkranz Numero drei zu mir alter Bibelskeptikerin und ich besitze kurioserweise inzwischen auch mehrere uralte Bibeln bis hin zur Taschenbibel für Lupenleser, die wie andere Artefakte Asyl im Kinderkönigreich beantragten und auch gewährt bekamen.
    Lustig, denn ich bin doch so ein kryptischer Kirchenkriechfußindianer auf Abwegen im Pantheon. Vielleicht gerade deswegen? Die Wege der Dinge sind kurios und wild.
    Kurt Schwitters Ambitionen erschließen sich mir wie vertraut. Er ist wirklich nicht so bekannt. Das ändert sich gerade wieder durch Deinen lesenswerten Beitrag. Ich sag meinen herzlichen Lesedank und sende Dir sonnig karfunkelnde Feengrüße

    Gefällt 4 Personen

    • Liebe Fee,
      jahrezehntelang kannte ich weder deine Spanischversuche 😉 noch wie die Ursonate tönt. Ich kannte nur die 29-seitige gedruckte Partitur aus Band 1 „Kurt Schwitters, das literarische Werk“, Hrsg von Friedhelm Lach, woraus ich das Beispiel gescannt habe. Dank Youtube können wir sie jetzt hören.

      Allein die Konsequenz, mit der Schwitters seine Ursonate entwickelt hat, nötigt mir Hochachtung ab. Wenn seine Arbeit fast 100 Jahre später noch auf Unverständnis stößt, kann man sich die Wirkung auf seine Zeitgenossen vorstellen. Denn Schwitters ist mit seinen Texten, dem berühmtesten Gedicht „Anna Blume“ und eben mit seinen Lautgedichten auch aufgetreten, in Hannover, aber beispielsweise auch bei seiner Dada-Tour durch Holland, die in dem friesischen Städtchen Drachten endete, worüber Manfred Voita hier geschrieben hat.
      Die Wertschätzung von Fundsachen wie deinem Herzkönig, ihre Einarbeitung in neue Kontexte, das Collage- und Montageprinzip auf alles Mögliche anzuwenden, das haben Künstler wie Schwitters vorgedacht. Und wir alle sind heute noch Nutznießer davon.

      Like

  2. Pingback: Von vielen Möglichkeiten weiss der Dinosaurier nichts — Jan Bräumer und Sebastian Tröger – Dümmlers Blog

  3. Pingback: Sprung ins offline – socopuk

Hinterlasse eine Antwort zu vilmoskörte Antwort abbrechen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..