Abenteuer mit Josie

Ich kann mich nicht sattsehen an den Grüntönen vor meinen Fenstern. Der Weißdornbusch ist grün geworden, als die Eiche noch schlief. Nach dem Aufwachen trieb sie zuerst orangefarbene Blätter, die erst langsam über Gelb zu Hellgrün übergingen. Noch immer ist ein Anflug von Orange zu sehen. Als wären noch herbstliche Säfte im Holz gewesen, die damals die Blätter Rotbraun gefärbt haben. Deutlicher zeigt das der Spitzahorn vor dem östlichen Fenster. Seine Blätter beginnen mit Rotbraun, etwas kräftiger als vor ihrem Abfallen im letzten Herbst. Sie werden erst viel später grün.

Vom frühlingshaften Austreiben ungerührt ist meine Zimmerpalme Josie. Ihr gilt eine andere Zeitrechnung. Aber ihr Anblick ist derzeit wieder spektakulär. Wenn ich morgens das Zimmer betrete, erfreut sie mich mit stattlichen Wedeln, mehr noch mit deren Überscheidungen. Es ergeben sich prächtige grafische Strukturen. Das ist es, weshalb ich Zimmerpalmen so liebe. Aus diesem Grund wurden mir schon einige geschenkt. Eine bekam ich von der Klasse, deren Klassenlehrer ich gewesen war. Ich ließ sie zunächst im Lehrerzimmer, wo eine Kollegin mit grünem Daumen sie in ihre Obhut nahm. Selbst in den Ferien fuhr sie zur Schule, um Blumen und meine Palme zu gießen. Sie gedieh so prächtig, dass ich mich gar nicht mehr als der Eigentümer sah. Ich mochte sie auch nicht von ihrem angestammten Platz entfernen, wo sie sich so offenbar wohl fühlte. Irgendwann vergaß ich, dass es meine Palme war.

Meine derzeitige Zimmerpalme schenkte mir Lisette. Das war noch in Aachen. An meinem Geburtstag schaute ich in ungeduldiger Erwartung aus dem Fenster und sah auf der Straße unten, wie Lisette ihr rotes Auto einparkte. Dann stieg sie aus und holte eine stattliche Palme hervor. Ich sehe noch heute, wie ihr rotblonder Haarschopf im Gleichtakt mit den Palmenwedeln wippte, als sie mit der Palme heraneilte. Ich taufte die Palme Josie und entwickelte eine symbiotische Beziehung zu ihr. Meine besseren Texte sind entstanden, nachdem ich Josie angefasst und mit ihr geredet hatte.

Josie 2011

Aus Gründen musste ich mich von Lisette trennen, obschon es war, als würde ich mir einen Arm absägen. Eines Morgens hatte sich Josie in ihrem Topf ganz zur Seite gelegt. Offenbar hatte auch Lisette die Trennung für sich vollzogen. Tags darauf sah ich sie mit einem neuen Mann. Josie erholte sich nur langsam, nachdem ich sie wieder aufgerichtet hatte. Meinen Umzug nach Hannover verkraftete sie gut und wuchs zunächst prächtig.

Beim Schlaganfall im Jahr 2013 war ich linksseitig betroffen. Auch Josie kümmerte linksseitig. Man sagte mir, ich solle sie drehen, aber das brachte ich nicht übers Herz. Mit meiner Genesung erstarkte auch Josie, wuchs zu rechten Seite derart, dass ein Stamm sich neigte und ihre größten Wedel den Boden berührten.

Vor einer Woche habe ich einen größeren Topf besorgt und zusammen mit meiner Putzhilfe und ihrem Freund, der sie hatte herfahren müssen, weil die Verkehrsbetriebe bestreikt wurden, wir drei haben Josie umgetopft, dabei aufgerichtet und an einen in den Topf gesteckten Schlagzeugstock gebunden. Ich dachte schon, sie hätte die Operation überstanden und wäre dabei, sich mit der neuen Situation zurechtzufinden. In der Nacht zum Freitag, in der Stunde des Wolfes, also gegen 4 Uhr morgens, hörte ich einen lauten Knall, dass ich dachte, meiner Obernachbarin wäre ein Ziegelstein aus dem Bett gefallen. Aber ich wunderte mich schon, denn die Sitte, im Backofen erhitzte Steine in klamme Betten zu legen, ist ja mit der Zentralheizung längst überflüssig geworden. Als ich am Morgen ins Wohnzimmer kam, war dann auch kein Stein über mir gefallen. Vielmehr lag Josie am Boden, hatte den Topf mit 25 Zentimetern Durchmesser und zehn Litern zusätzlicher Blumenerde umgerissen.

Daher besorgte ich gestern einen 30-Zentimeter-Topf und setzte Josie aufgerichtet hinein. Aber es fehlte Blumenerde. Josie stand unsicher, und eine lange Wurzel lag frei. Bevor ich weitere Blumenerde besorgen konnte, wurde ich von großer Schwäche geplagt und musste mich zuerst ausruhen, dass ich dachte, etwas in mir spiegelt Josies Situation. Inzwischen steht sie – nicht ganz aufrecht, was ich ohne helfende Hand nicht hinbekam, aber einigermaßen fest. Ganz so wie ich.

13 Kommentare zu “Abenteuer mit Josie

  1. Oh Jules, was für ein berührender Text! Was nicht wundert, weil du Jolie ja so liebevoll erstversorgt hast nach dem Umfall (sic!))
    Ich wünsch euch beiden noch eine lange und gute Zeit, ihr scheint euch ja gefunden zu haben 🙂
    Ganz herzliche Grüße, Anna

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  2. Eine wundervolle Erzählung, lieber Jules.
    Ist ein Mensch nur einsam genug, dann kann er auch mit einem Stein Freundschaft schließen. Viel schöner aber, ist es sich an eine Pflanze zu binden, mit der einem eine so schöne Geschichte verbindet. Obwohl mir natürlich deine Gesundheit mehr am Herzen liegt, hoffe ich sehr, dass Josie weiterhin so prachtvoll an deiner Seite steht.

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    • Danleschön, liebe Mitzi,
      die Idee, mich an die Pflanze zu wenden, stammt vom Grafiker Jim Krause. In seinem kreativen Büchlein Funkenflug empfiehlt er, ab und zu einenBaum zu umarmen. Zur Not tue es auch eine Zimmerpflanze. Ich habe rasch beobachtet, dass es half, und seither kommuniziere ich mit Josie. Gerne auch noch länger 😉 Da ist noch so vieles zu schreiben, merke ich …

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  3. Lieber Jules,
    auch von mir liebe Grüße und alles Gute Euch beiden!
    Mir macht im Moment mein Ficus benjamini im Wohnzimmer Sorgen. Letztes Jahr habe ich ihn mit Hilfe eines Freundes von einem 40- in einen 50-cm-Tontopf umpflanzen können, aber ich kam nicht dazu, wie sonst jedes Jahr im Frühling die Blätter abzuwischen.
    https://textundsinn.wordpress.com/2014/03/23/fruhjahrsputz/
    Dieses Jahr habe ich die Blätter schon im März – noch vor dem eigentlichen Beginn des Frühjahrsputzes – abgewischt, aber seitdem geht es dem Ficus eher schlechter als besser. Dutzende, wenn nicht Hunderte Blätter sind seitdem vergilbt und abgefallen, und bisher sprießen keine neuen, wie sonst um diese Zeit. Ob das ein Zeichen ist? Wenn ja, wofür?
    Übrigens gibt es eine sehr schöne, sozusagen umgekehrte Geschichte von James Herriot (der in Deutschland als „Der Doktor und das liebe Vieh“ allen außer mir bekannt ist). Da wird ein Kater – Alfred –, der im Süßigkeitenladen seines Besitzers immer stolz an der Kasse saß, plötzlich krank und verkümmert, und sein Herrchen aus Mitleid mit ihm, bis der Tierarzt die Krankheitsursache findet und behandelt und beide, Kater und Besitzer, wieder zu ihrer alten Form zurückfinden.

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    • Vielen Dank, liebe Dorothea, für Wünsche und Bericht. Leider kenne ich mich mit solchen Pflanzen gar nicht aus, weiß eigentlich überhaupt nichts übers Thema, aber die empfindliche Reaktion deines ficus benjamini lässt mich schließen, dass er keine Veränderungen mag.
      An die TV-Serie „Der Doktor und das liebe Vieh“ erinnere ich mich gut und gern. Sie lief in den 1990-er Jahren auf WDR III. Damals habe ich oft geschaut. Bleibt mir noch, dir und deinem ficus das Beste zu wünschen.

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      • Hier klinke ich mich mal ein, denn an die liebenswerten und lebensklugen Geschichten aus „der Doktor und das liebe Vieh“ erinnere ich mich gerne. Ficüsse können sehr alt werden. Ich hatte mal einen – doch er hat leiderleider den zweiten Umzug nicht überlebt. Diese Pflanzen mögen keine Ortsveränderungen und auch ansonsten keine Veränderungen. Alles gute Zusprechen half meinem alten Ficus nicht: er kümmerte am neuen Standort und starb. Vielleicht hatte er auch einfach zu Ende gelebt und war zu altersschwach geworden. Von Palmen weiß ich nur, dass sie uralt werden können und sie sind zwar eigenwillig aber zäh. So gut wie Du Dich um Josie bemühst, bin ich davon überzeugt, dass sie Dir noch viele Jahre Geschichten erzählen wird. Liebe Grüße von der Fee

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  4. Menschen mit Haustieren soll es ähnlich ergehen, wie uns mit unseren Zimmerpalmen, sprich Tier und Mensch gleichen sich an, bis sie eines Tages fast nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Bloß das Gassi gehen ersparen wir uns …

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  5. Pingback: Sprung ins offline – socopuk

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