Teestübchen Briefaktion (6) – Annas Karten

Um 5 Uhr bin ich wach. Es ist noch dunkel. Weil Sonntag ist, kann ich das Fenster öffnen. Selbst auf dem nahen Westschnellweg wird jetzt noch nichts los sein. Es ist still, und ich wundere mich. Um fünf Uhr darf man doch schon Vogelgesang erwarten? Als ich noch in Aachen in unserem Haus lebte, hatten meine Kinder sogar eine Vogeluhr. Auf ihr konnte man ablesen, wie spät es ist. Unsere heimische Singvogelwelt verteilt sich mit dem Aufwachen auf einen Zeitraum von etwa zwei Stunden. Wenn im Mai der Buchfink tschilpt, ist es fünf Uhr. Weil mich eine selbstauferlegte Pflicht rief und ich eigentlich aufstehen wollte, fand ich nicht mehr richtig in den Schlaf, sondern wühlte Halbschlafgedanken ins Kissen, ob etwa die welschen Feinschmecker unsere schöne Vogeluhr weggeputzt haben. In diesem Kontext kriegt das Wort „Feinschmecker“ etwas von schmatzenden Idioten. Andererseits, welche Rechte hat ein Singvogel dem Huhn voraus? Darf das Huhn sich am Bratspieß drehen, weil es nicht schön genug singt? Letztlich muss ich darüber eingeschlafen sein, und der Text, den ich mir bis ins Kleinste überlegt hatte, war um 8 Uhr im Kopfkissen nicht aufzufinden.

So ist mir leider entfallen, was Singvögel und die Vogeluhr mit den Einsendungen von Anna socopuk zu tun haben. Als vor einigen Wochen eine collagierte Ansichtskarte in meinem Briefkasten lehnte, war mir klar, dass es die erste von mehreren sein sollte. Die Collage zeigt im Untergrund zwei Streifen aus kariertem Papier, worauf mit Siena einige Antiquabuchstaben kalligrafiert sind. Darüber klebt ein blauer Zettel mit meiner Anschrift in Schreibmaschinenschrift, darüber mit Überlappungen am unteren Rand ein Ausschnitt der fotografischen Abbildung einer Schreibmaschine. Zu sehen ist der sorgfältig ausgeschnittene Bügel, der den Anschlag des nächsten Buchstabenhebels anzeigt. Der Wagen scheint bis hinter den letzten Buchstaben von Hannover vorgerückt zu sein. Zum linken Bildrand erstreckt sich eine Abbildung von Bleilettern in einem Steckkasten, ausgeschnitten in Form einer länglichen Blase, am oberen Bildrand der Ausschnitt einer Schulter mit einigen aufliegenden Fingern, verkehrt herum aufgeklebt. Die gesamte Collage wirkt wie ein Bilderrätsel, dessen Thema eindeutig Sprache, Schrift und Schreiben ist.

Ein Absender schien zu fehlen. Aber ich erkannte die Handschrift sofort und vergewisserte mich noch beim Video, das Anna socopuk im Rahmen des Handschriftseminars erstellt und veröffentlicht hat. Tag für Tag trudelten weitere Karten ein. Nur die letzte von sechs brauchte etwas länger, so dass wir uns per Mail sorgten, sie könnte verlorengegangen sein. Ist sie aber nicht, und so konnte ich das Bild vervollständigen. In einer Mail schrieb Anna auch: „Außerdem fand ich es eine witzige Vorstellung, dass du von Anfang an meine Adresse & das Rückporto hast, aber es nicht weißt.“ Ein Zettelchen mit ihrer Adresse und der Briefmarke war nämlich unter der oben erwähnten Schreibmaschine versteckt. Puh, manche Frauen lieben es rätselhaft.

Wenn alle Karten richtig zusammengelegt sind (beim Scannen sind leider einige etwas verrutscht, weil ich die Karten nicht zusammenkleben wollte), erklärt sich einiges. Zu sehen ist das beschnittene Foto einer Frau im Halbprofil von hinten, der ein Scankode auf die Schulter tätowiert wird. Die auf der Schulter aufliegenden Finger gehören dem Tätowierer. Das blasenförmige Element der ersten Karte ist eine Sprechblase. Alle Karten tragen blaue Zettel mit meiner Adresse, jedesmal in einer anderen Schrifttype. Unten rechts trägt der Zettel meine Druckschrift (von einem Gestaltungsbeispiel), mit einem ins Bild ragenden roten Fineliner nachgeschrieben. Zentral ist ein Zitat von vermutlich Gerhard Roth zu lesen, der Name klebt jedenfalls gestürzt neben dem sorgfältig ausgeschnittenen Foto einer lesenden Frau. Diese Frau sitzt auf einer fett umrandeten Adresse. Das Zitat ist scheints von einer seltsam geformten Schreibfeder geschrieben, deren Halter in eigenwillige grafische Formen ausläuft. Ich hoffe, alle wesentlichen Bildelemente beachtet zu haben. Vielleicht verbirgt sich noch irgendwo eine Anspielung, aber ich sehe sie nicht.

Auf den Rückseiten schreibt Anna von und mit ihrer Glasfeder. Wie hübsch! Noch nie zuvor hat mir jemand mit einer Glasfeder geschrieben! Weiterhin reflektiert sie über die Vorzüge der Handschrift. Rechts unten verrät eine Bleistiftnotiz, dass ihre Anschrift und das Rückporto auf der ersten Karte unter der Schreibmaschine versteckt sind. Alles in allem bin ich sehr angetan von dieser aufwändigen sechsteiligen Einsendung. Sie ist komplex, sorgsam bedacht, entschieden konzeptionell und grafisch ansprechend ausgeführt.

Liebe Anna, herzlichen Dank für diese beeindruckene Einsendung, wert an einem Sonntag präsentiert zu werden!

13 Kommentare zu “Teestübchen Briefaktion (6) – Annas Karten

  1. Guten Sonntag Morgen,

    Liebe Anna Socopuk,
    Schwungvoll kommen S und G im geschriebenen Wort daher. Jules hat aufgezählt, was ihm alles an Besonderheiten und versteckten Rätseln aufgefallen ist und insgesamt so einen Chapeau für Dich und Deinem großen Einfallsreichtum, Geist und Witz – noch nicht eingerechnet die Zeit, die Sorgfalt und die Lust am Schreiben, die mir hier so deutlich entgegenspringt. Diese Briefe sind eine ganz eigene Kunstform, mit der ich hier im Seminar zum ersten Mal in Berührung kam. Es wirkt so professionell, was Einige hier vorstellen und es ist schön, dass solche Kunst öffentlich sein kann.
    Danke, Anna und Jules und schönen Sonntag noch,
    wünscht die Fee🌸🌀

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  2. Lieber Jules, ich danke Dir für das tolle Projekt und die detailreiche Präsentation! Du hast alles analysiert und nichts übersehen -Ich fühle mich geehrt und freue mich sehr, nun Teil deiner Teestübchen – Ausstellung zu sein!

    Die Feder ist m.E. eine menschliche Silhouette, was dem Zitatinhalt wörtlich entspräche. Und das mit der Rätselhaftigkeit hat mich herzhaft zum Lachen gebracht – ja, so ist das wohl 🙂

    Mir bleibt zu danken, für den schönen Sonntag Nachmittag, den ich mit Gestalten und Schreiben verbracht habe, und für den schönen Sonntag vormittag, an dem ich von deinem Post überrascht wurde.

    Ganz herzliche Grüße,
    Anna

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    • Liebe Anna! Das Briefprojekt lebt von deinen Karten und den anderen Einsendungen als Briefe. Es war mir ein Vergnügen, alles eingehend zu betrachten und zu präsentieren. Du hast an anderer Stelle nach einer Fortsetzung des Projektes gefragt. Vorerst wird es einmalig bleiben, und du bist mit deinem Werk dabei. Fehlen noch ein abschließendes Resumee, und meine Kartenangebote für alle sechs Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Es ist auch für mich etwas Besonderes, was hier im Teestübchen mit eurer Hilfe entstanden ist.
      Herzliche Grüße,
      Jules

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  3. Liebe Anna Socopuk,
    ich bin begeistert: Du hast ja ein wunderbares Gesamtkunstwerk abgeliefert.
    Allein der Beginn mit Deinem Video: man kann Dir hier nicht nur beim Schreiben zuschauen, sondern das ruhige Geräusch des Schreibens genießen. Und dazu dann diese Pausen des Absetzen des Stiftes zwischen den Sätzen, die wohl zum Nachdenken über das Formulieren des nächsten Satzes gebraucht wurden.
    Alles, was nun so kreativ ratenweise nachfolgte, ergibt zusammengefügt ein tolles Werk.
    Klasse!
    Dankeschön auch an Jules: Du hast mit dieser Aktion einen kleinen Spalt in der Mauer der digitalen Welt geschaffen, durch den man einen kleinen Blick von den mitbloggenden Personen aus Fleisch und Blut erhaschen konnte.
    Danke für Deine Mühe und den Spaß an der Aktion.
    Liebe Grüße an alle!
    Lo

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    • Schön gesagt, lieber Lo. Zu Beginn der Briefaktion war ich mir nicht sicher, ob wer bereit sein würde, diesen Blick durch den Spalt zuzulassen. Um so mehr freue ich mich über die durchweg bemerkenswerten Ergebnisse. Dank an euch alle, die ihr der Aktion Substanz verliehen habt.
      Schöne Grüße zum Wochenbeginn,
      Jules

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  4. Pingback: Zum Abschluss der Teestübchen Briefaktion

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