Ein verpasster Vortrag und einiges über Metaphysik

Shame! Montagabend standen Herr Putzig, Leisetöne, eine mir unbekannte rothaarige Frau und ich mit anderen vor dem Unigebäude am Königsworther Platz und bekamen keinen Zutritt zum Vortrag von Aleida Assmann über das Vergessen. Man hatte die Veranstaltung wegen des zu erwartenden Zuspruchs in die Empfangshalle des ehemaligen Continental-Direktionsgebäudes verlegt. Aber nun waren auch hier alle Plätze vergeben. Wie ärgerlich! Wir hätten an den Vorverkauf denken müssen, waren auch ganz blauäugig erst für fünf vor acht verabredet gewesen.

Dabei hatte ich mich sogar vorbereitet, das Suhrkamp-Taschenbuch „Entstehung und Folgen der Schriftkultur“ von Jack Goody, Kathleen Gough und Ian Watt hervorgekramt, was thematisch verwandt ist mit Aleida und Jan Assmann; „Schrift und Gedächtnis“, ihrem zentralen Thema. Nun haben wir also nicht hören können, was Aleida Assmann zum Thema Vergessen zu sagen hatte, aber ein Gewinn war es für mich trotzdem, und den hoffe ich weitergeben zu können, auch wenns komplizierter wird als üblicherweise im Teestübchen.

Im Aufsatz von Jack Goody und Ian Watt; „Konsequenzen der Literalität“ stieß ich auf den Begriff der „semantischen Ratifizierung“, der mir beim ersten Lesen nicht sonderlich aufgefallen war.
Semantische Ratifizierung, meint also die Einweisung in Bedeutungen von Sprache. Ratifizierung bedeutet nicht einfach Vereinbarung, sondern Verbindlichkeit der Vereinbarung. Ein Hund heißt nicht heute Hund und morgen Kamel. Es wird nicht immer wieder erneut verhandelt, wie die Erscheinungen heißen, sondern das wird ein für allemal festgelegt mit bleibender Gültigkeit – bis zum Erlernen einer Fremdsprache. Goody/Watts versuchen darzulegen, wo der Unterschied besteht zwischen oralen, also mündlichen, und literalen, den schriftlichen Kulturen. Während die Wortbedeutungen in schriftlichen Kulturen mit Hinweis auf Wörterbuchdefinitionen geklärt werden können, sind sie in mündlichen Kulturen an die Situation und sprachbegleitende Elemente, also Gestik und Mimik des Vermittlers der Bedeutungsgehalte gebunden.

Wir alle haben den Prozess der semantischen Ratifizierung durchlaufen, haben als Kinder und Heranwachsende die Bedeutungen von Wörtern gelernt, die konkret Fasslichen im direkten Kontakt mit Bezugspersonen oral, die abstrakten Begriffe primär literal. Mein Gedanke hierzu: Die konkrete Benennung einer Erscheinung lernt ein Kind nicht als Wort, sondern als Laut. Sieht es zum ersten Mal Schnee, und die Bezugsperson legt die Wortbedeutung fest: „Das ist Schnee“, dann sind der Sprachlaut Schnee sowie Mimik und Gestik des Erklärenden gemeinsame Erscheinungen der Wirklichkeit. Hier liegt das Fassbare kalte weiße Zeug, dort ertönt der Laut „Schnee“ aus dem Mund einer Bezugsperson. Beides ist in gleicher Weise real, gehört zwar zusammen, aber eine Vorstellung von der Hierarchie hier Bezeichnetes (Schnee) und dort Bezeichnendes (Sprachlaut Schnee) vermittelt sich auf diese Weise nicht. Anders gesagt: Das Kind lernt keine Wörter, sondern etwas den Dingen Gleichwertiges. Schnee fällt vom Himmel und „Schnee“ kommt als Laut aus dem Mund von Mama oder Papa. Das Kind erlebt Laut, Mimik und Gestik als reale Erscheinung, die überdies an eine Situation gebunden ist, was die Qualität einer kleinen Theaterszene hat. Sehr viel später, nämlich erst mit dem Erlernen des Alphabets, reduziert sich diese Inszenierung auf ein Wort. Entsprechend weiß man von rein mündlichen Kulturen, dass sie keine Vorstellung von einer Sache wie Wort haben. Sprache bleibt für sie immer eine Inszenierung der Wirklichkeit.

Mir fiel eine Entsprechung auf, an die ich vorher nicht gedacht hatte:
Dass neben der physikalischen Erscheinung auch ihr Begriff existiert, beispielsweise das Hundhafte, das allen Hunden zueigen ist, entspricht Platons philosophischer Idee der Universalien. Weil Universalien nicht physikalisch sind, siedelt Platon sie in einem Bereich außerhalb der Physik an, in der von ihm so genannten Metaphysik.

Der antiken Idee der sprachlichen Universalie steht die im Mittelalter entstandene Auffassung entgegen, dass Wörter die Dinge nur bezeichnen, also nichts als theoretisch austauschbare Namen der Dinge sind. Das ist die Auffassung der Nominalisten. Zwischen beiden Auffassungen besteht seit Jahrhunderten ein philosophischer Streit, der sogenannte Universalienstreit.

Mitglieder einer Schriftkultur müssten die Idee der Universalien eigentlich ablehnen und Nominalisten sein. Aber da ein jeder die Sprache zuerst rein mündlich lernt, besteht die metaphysische Idee der Universalien weiter. Auch die Sprachmagie liebäugelt damit. Das magische Verhältnis zur Sprache spiegelt sich beispielsweise im Gedicht des Romantikers Joseph von Eichendorff von 1835:

Foyer im Continental-Direktionsgebäude, am Abend wegen Überfüllung geschlossen – Foto: JvdL

Schläft ein Lied in allen Dingen
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.

Es lohnt, darüber nachzudenken, auch wenn wir nicht erfahren haben, was Aleida Assmann über das Vergessen erzählt hat.

11 Kommentare zu “Ein verpasster Vortrag und einiges über Metaphysik

    • Zweifellos. Es ist ja ein Merkmal literaler Kulturen, dass Vergessen nur langsam geschieht und grundsätzlich ungern gesehen wird. Wenn ich die Vorankündigung richtig verstanden hat, will Frau Assmann das Vergessen nicht nur negativ sehen, sondern ihm eine andere Wertigkeit geben.
      Schöne Ostergrüße

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  1. Daphne du Maurier beschreibt in ihrem Roman ‚Rebecca‘ die Erinnerung wie einen flüchtigen Duft, für den sich die namenlose Heldin einen Flakon wünscht um ihn bewahren zu können. Visionen sind Vergessen im Moment ihres Träumens und werden bewahrt im Flakon der Literatur.
    Nein, ich habe noch nicht alles aus Deinem Beitrag verstanden😇 und manche Fremdwörter muss ich nachschlagen. 🌀Das ist aber nicht schlimm, denn sie sind Teil des Librettos in Deiner Inszenierung und es ist eine reine Frage von Interesse und Lernlust ob ich über drüber hinweglesen oder ihren tieferen Sinn und Zusammenhänge erkennen will. Wort ist Sprache und dahinter steht eine Art Gespür für Schnee. Ah, ich bin Fan von Fräulein Smilla. 🤗
    Frohe Feiertage für Dich, wünscht die Fee✨🧚‍♀️

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    • Unser Aufbewahrungsflakon ist ja die Schrift, zwar nicht so umfassend wie im „flüchtigen Duft“ der Daphne du Maurier, aber wenn Sprache fein genug gewirkt ist, rührt sie das nicht in ihr Enthaltene beim Leser an und bringt es dort wieder zum Duften.
      Fremdwörter als „Teil des Librettos in meiner Inszenierung“ ist hübsch gesagt. Ich war bestrebt, alle Fremdwörter, eigentlich Fachwörter, im Text zu erklären. Aber ich fürchte, das ist mir mit der erforderlichen Klarheit nicht gelungen. Nachschlagen hilft sicher und ich freue mich über verhandenes Interesse an dem, das mich gerade gedanklich beschäftigt. Ich glaube, über die metaphysische Realität Platons und darüber, wie Angehörige mündlicher Kulturen Sprache und ihre Welt erleben, müsste man einen erzählenden Text verfassen wie der US-Ethnologe Carlos Castaneda es in „Die Lehren des Don Juan“ getan hat. Uns Angehörigen einer literalen Kultur ist der Weg in die magische Welt durch unser alphabetisches Denken versperrt. Manche behelfen sich mit bewusstseinserweiternden Drogen.
      Dankeschön und frohe Ostertage auch dir, wünscht Jules

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      • Jules, ich habe den Begriff der Semantik nachgeschlagen und auch den Streit um die ‚Universalien‘- dank Deinem Link. Es lag nämlich keineswegs an zu unzureichend oder gar unerklärten Fremdwortbegriffen sondern viel mehr daran, dass ich noch zu wenig über Semantik, Semiotik und Universalien in der Metaphysik weiß und mehr lernen und erfahren will. Im besten Fall regen doch philosophische oder metaphysische Inhalte zum weiteren Nachforschen an? Die Bedeutung von etwas kann mir erst bewusst sein, wenn ich die Struktur begreifen kann und Sprache ist zwar unbegreiflich, doch sie kann sich über das Fassbare, das Begreifbare erheben und dann wird sie magisch.
        Das hast Du trefflich formuliert: „…aber wenn Sprache fein genug gewirkt ist, rührt sie das nicht in ihr Enthaltene beim Leser an und bringt es dort wieder zum Duften.“ Wie war das beim kleinen Prinzen mit dem für die Augen unsichtbaren Wesentlichen? bei Antoine de Saint-Exupéry…?Dort ruht die Wahrheit in den Büchern, in den Worten. Wenn Nachschlagen dem Befeuern des Wissendrangs dient, kuttert der Kahn um so kraftvoller vor sich hin. Ich verabschiede mich in eine Osterpause. Hab es gut🧚‍♀️✨

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  2. Ein sehr spannendes Thema, lieber Jules! Spontan hatte ich dazu allerdings folgenden Gedanken, gewissermaßen Widerspruchheischend, als Herausforderung gedacht: Kann es sein, dass wir, die wir in einer schriftlichen Kultur aufwachsen und nichts anderes aus eigener Anschauung kennen, eine rein oral funktionierende Kultur romantisieren? Als müsse es da etwas geben, das wir auf dem Weg zur Schriftlichkeit verloren haben? Etwas Richtung Unmittelbarkeit, Allumfassenheit („Universalität“)? Das Entscheidende an Sprache ist doch ihr Abstraktionsvermögen. Ich kann „Schnee“ sagen, und alle wissen, was gemeint ist, ohne dass welcher da ist. Das funktioniert mündlich nicht anders als schriftlich. Und für Kinder bestimmt schon, bevor sie schreiben gelernt haben (oder täusche ich mich da?) Allenfalls erkenne ich bei schriftlichen Kulturen eine gewisse Tendenz zur Durchtheoretisierung, die, ohne zwingend Erkenntnis zu gebären, schon greift einfach weil Papier geduldiger ist als jeder theoretisch denkbare Zuhörer. Kann freilich auch sein, dass ich den Begriff der semantischen Ratifizierung einfach nicht richtig verstanden habe. 🙂 (Nebenbei: in Jürgen Kaubes lesenswertem Buch „Die Anfänge von allem“ gibt es ein Kapitel zur Entstehung der Schrift. Demnach lagen die Gründe für einen Übergang zum Schriftlichen in ganz banalen Dingen einer praktischen Alltagswirklichkeit begründet)

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    • Wir müssen argumentativ nicht hinter den Stand jahrzehntelanger ethnologischer Forschung zurück. Spontan kann man sich der Frage auch nicht nähern. Dass in oralen Kulturen auf andere Weise gedacht und Wirklichkeit anders erlebt wird, ist belegt. Es geht nicht um Romantisierung, auch nicht um Wertung, die das eine höher schätzt als das andere. Ich habe versucht aufzuspüren, woher die Idee der Universalien kommt. Ein Indiz ist, dass zur Zeit Platons sich die griechische Kultur auf der Grenze zwischen Oralität und Literalität befand. Platon selbst bevorzugte das Mündliche und hat im Phaidros als erster eine grundlegende Kritik an der Schrift formuliert.

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