Stöhnend betritt der alte Mann am Stock die Bäckerei. „Ich war zur Blutabnahme und zur Physiotherapie und bin total kaputt“, sagt er der rundlichen Bäckereifachverkäuferin, indem er an der Theke entlang humpelt. Nachdem er sich ächzend gesetzt hat, bringt sie ihm den Kaffee an den Tisch. Ich bin froh, nach meinem letzten Schluck Kaffee aufbrechen zu können, denn sein Ächzen geht weiter. Entweder will er die akustische Oberhoheit über den Raum und gibt ständig Töne von sich, wie der Hund das Bein hebt, um sein Revier zu markieren, oder er merkt es gar nicht mehr.
In den Jahren, bevor ich nach Hannover zog, war ich von einer schwierigen Beziehung in die nächste getaumelt. In dieser Zeit hörte ich mich oft seufzen. Wann immer ich meine Küche betrat, seufzte ich. Ich nannte die Küche „meine Seufzerecke.“ Es war mir unangenehm, dass ich seufzte, aber konnte nichts dagegen tun, denn es kam über mich wie Niesen. Eventuell ist Seufzen, Ächzen und Stöhnen tatsächlich zu den unwillkürlichen Lebensäußerungen zu zählen und hat eine Entlastungsfunktion wie Weinen. Garantiert werden dabei ebenfalls Glückshormone freigesetzt, die helfen, eine harte Lebenssituation leichter zu ertragen. Denn im Laufe der Evolution sollte der Mensch doch Strategien entwickelt habe, sein Leid besser zu ertragen. In der Metaphorik des irdischen Jammertals ist ein schier unendlicher Treck der Menschheit unterwegs, und über dem Straucheln, Stolpern und sich Voranschleppen hängt ein Seufzen, Stöhnen, Ächzen, dass das Tal schier davon überquillt. Und in der galaktischen Registratur fangen sie all den Jammer ein, wandeln ihn in Energie um und betreiben ihre Lampen damit.
Übrigens muss ich schon eine Weile nicht mehr seufzen. Während mein früherer Jammer reichte, ein Büro der Registratur zu bestrahlen, dass die beiden Unterbeamten darin sich mit Sonnenbrillen schützen mussten, klagen sie heute über zu wenig Licht und zünden Kerzen an. Befragt, woran es liegt, sagen sie übereinstimmend: „Die Lampen gingen aus, seit er keine Beziehung mehr hat.“
Gut gestöhnt, Löwe. Wer ist „er“ im letzten Satz?
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Dankeschön. Die erste Person im ersten Satz des Absatzes.
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Tatsächlich habe ich das mal irgendwo gelesen oder gehört: Stöhnen hat eine Entlastungsfunktion, verringert sogar das Schmerzempfinden bei körperlichen Beschwerden. Wir stöhnen also nicht, weil wir nicht tapfer sind, sondern um Schmerzen besser auszuhalten. Dermaßen über die Funktion des Stöhnens belehrt, versuchte ich dann, mir da Stöhnen anzugewöhnen – nicht vor aller Ohren, aber in einem unbelauschten Moment mal so richtig abzustöhnen, wenn mir danach war. Es hat auch wirklich geholfen. Dennoch habe ich damit wieder aufgehört. Manchmal geniere ich mich eben auch vor mir selbst.
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Danke für die Bestätigung meiner Vermutung. Der Mensch ist schon en seltsames Geschöpf. Wnn wir uns beispielsweise eine schmerzende Stelle halten, etwa am Rücken, blockiert das Berühungsempfinden die Schmerzleitungen, hat mir mal mein Physiotherapeut erzählt. Dazu noch kräftig abgestöhnt, schon ist man schmerzfrei. 😉
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Hmm, wenn ich allein bin, stöhne ich nie. Stöhnen ohne Publikum macht mir keinen Spaß und erscheint mir auch witzlos. Vielleicht wirke ich dadurch auch schon mal ein wenig verkniffen.
😀
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Also auf mich wirkst Du NIE verkniffen. Aber echt mal, so richtig abstöhnen, wie man es vor anderen nie täte, laut und bis einem die Puste ausgeht – das entlastet schon. Die Japaner rennen auf einen Berg und stoßen einen lauten Schrei aus, wenn sie oben angekommen sind, habe ich mal gelesen. Jetzt mal abgesehen davon, dass mir hier der Berg fehlt und ich auch keine Puste mehr hätte zum Schreien, wenn ich oben bin, finde ich das Abstöhnen einfach „handlicher“.
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@ Marana
Es gibt ja verschiedene Gründe für derlei Lautäußerungen. Die Frau, deretwegen ich in meiner Küche seufzte, noch zu Blog.e-Zeiten, lebt(e) in Berlin. Körperliche Gebrechen kannte ich da noch nicht. Es war vermutlich Sehnsucht. 😉
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Solange es noch Kerzen sind, um einer Registratur ein wenig Sicht zu geben, ist es noch in Ordnung. Wenn es aber Kerzen sind, da wo andere auch Blumen, Kränze oder anderes hintragen, dann sind die Lichter wirklich aus. Da hilft dann auch kein Seufzen mehr …
„Die Lampen gingen aus, seit er keine Beziehung mehr hat.“ Ich hoffe doch nicht, dass sie ausgingen, weil sie stetig begossen wurden …
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Im Gegenteil, weil der schönste Gemütszustand die Ataraxie ist, dagegen kann man in einer Beziehung höchstens die bräsige Gemütlichkeit haben.
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Der Schluss, die Verwandlung allen irdischen Jammers in sein Gegenteil, in Licht, gefällt mir richtig gut. Das Jammertal, in dem wir leiden und seufzen, um in höheren Gefilden die Beleuchtung für die Amtsstuben zu sichern! Ich würde glatt mitseufzen, aber es reicht nicht für mehr als ein schweres Ausatmen.
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Freut mich, danke. Und ein schweres Ausatmen reicht doch. Es muss ja nicht gleich ein Kronleuchter erstrahlen. 😉
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Ich spreche meine Gedanken oft laut aus und plappere unbewusst vor mich hin. Ob ich dabei jammere oder stöhne, hat man mir noch nicht gesagt. Doch kaum wird es dunkel, gehen bei mir die Lichter an … 😉
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Das ist der Beweis. 😉
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