Der dicke Hubert und das nervöse Karlchen

Heute morgen auf der Suche nach einem Blatt, worauf ich einst das Exemplar Sheet von Alfred Fairbank nachgeschrieben habe, hatte ich im Nu einen Papierwust auf dem Tisch, der mich Hunderte Dinge finden ließ, aber nicht das gesuchte Blatt. Es ist im wahrsten Sinne unfassbar, was sich allein in den 13 Jahren meines Bloggens an Material angesammelt hat. Da sind nicht nur die Blogprojekte, sondern auch alles, was sich begleitend im analogen Leben ergeben hat und dessen Objekte einer schreibenden Aufarbeitung harren oder auch nur aufbewahrt werden als Artefakte des gelebten Alltags. Natürlich fand ich auch Spuren angefangener Schreibprojekte wie die autobiografische Serie „Jüngling der Schwarzen Kunst“, vor zwei Jahren veröffentlicht im Teppichhaus Trithemius. Ich habe mich jedenfalls entschieden, dieses Projekt weiterzuführen. Da sind bereits 78 Buch-Normseiten und Material genug für doppelt soviele Buchseiten. Eine Sequenz daraus will ich hier veröffentlichen, weil sie anschließt an den Beginn meines Beitrags „An der Ypsilongabel.“ Es geht um das morgendliche Busfahren.

Täglich nimmt der Jüngling den ersten Bus um 6 Uhr 35. Es gibt auf dieser Linie zwei Busfahrer, die sich wöchentlich abwechseln, der dicke Hubert und das nervöse Karlchen. Obwohl Hubert im nur zwei Kilometer entfernten Nachbardorf seine Schicht beginnt, kommt er fast immer zu spät. Kommt mit derselben Selbstverständlichkeit zu spät, mit der er der dicke, Respekt einflößende Hubert ist. Hubert soll ein Frauenheld sein, ist irgendwie tierhaft, immer unwirsch, wie es manche Frauen mögen. Im Sommer sitzt er im Unterhemd hinterm Steuer. Es ist auf ihn kein Verlass, nicht mal auf seine Unpünktlichkeit. Fünf Tage lang kommt er zwanzig Minuten zu spät, und am sechsten Tag auf die Minute, so dass, wer sich auf Huberts Unpünktlichkeit einstellt, den Bus verpasst. Im Winter, wenn es noch stockfinster ist um diese Zeit, hat man schon oft frierend auf Hubert gewartet, ein ganzes Häuflein an der Haltestelle im noch schlafenden Dorf, aber nie hat es wer gewagt, Hubert wegen seiner Unpünktlichkeit zu ermahnen.

Dabei fährt immer ein Ehepaar mit. Der Mann könnte doch mal was sagen, denkt Nettesheim, wenn er ein Kerl wäre. Nettesheim hegt einen Groll auf das Paar. Irgendwann hat er versäumt, die beiden zu grüßen, und jetzt ist es immer peinlich, ungegrüßt mit ihnen an der Haltestelle zu stehen und auf Hubert und seinen Bus zu warten. Der Mann trägt einen Bürstenhaarschnitt. Nettesheim vermutet, dass er die Haare hochföhnt, um wenigstens einen halben Zentimeter größer zu sein als seine durchaus kleine Frau. Das Paar sitzt im Bus natürlich nebeneinander, er am Fenster. Der Mann packt dann die Lokalzeitung aus, reißt sie immerzu heftig auseinander und fuchtelt mit seiner zeitungsbewehrten Rechten unter ihrer Nase herum.

Das nervöse Karlchen, der schon bejahrte Mann, fährt und verhält sich so, als könnte er selbst nicht glauben, dass er den Busführerschein hat. Karlchen kommt fast immer ein klein wenig zu früh, besonders im Sommer. Auf den Dörfern nahe der Stadt wird der Bus voll, und die Leute rennen von allen Seiten heran, wenn Karlchen wieder zu früh kommt. Einmal hört der Jüngling, warum Karlchen immer so zeitig ist. Da sagt er zu einem Fahrgast: „Ich seh so gern, wenn die Mädchen laufen müssen und die Äpfelchen hüpfen!“ Soll sich was schämen, denkt der Jüngling, so ein alter Mann! (Aus: Jüngling der Schwarzen Kunst, demnächst mehr)

7 Kommentare zu “Der dicke Hubert und das nervöse Karlchen

    • Soeben stellte ich fest, dass ich vor exakt einem Jahr schon einmal das vorhandene Material zusammengestellt habe. Da liegen schon 78 Buchseiten vor. Und ein Konzept fand ich auch, was ich total vergessen hatte. Ein Glück, dass es die digitale Suchfunktion gibt. Hoffentlich gelingt es mir diesmal, die Geschichte vom Jüngling der Schwarzen Kunst fertigzustellen. Deine positive Reaktion (vielen Dank!) und auch die damals bei Trithemius.de sollten mich eigentlich beflügeln.

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        • „Schwarze Kunst“ wurde einst die Druckkunst genannt, wegen der schwarzen Druckfarbe und weil ihr der Ruch anhaftete, Teufelswerk zu sein. Noch im 19.Jahrhundert galt nicht Gutenberg, sondern F(a)ust als Erfinder des Buchrucks. 1840 dichtete Grillparzer:

          O lichte Schwarze Kunst,
          Ob Gutenberg, ob Faust,
          War man zu Recht im Zweifel,
          Denn halb kommst du von Gott,
          Und halb kommst du vom Teufel.
          (Mehr in: Buchkultur im Abendrot)

          Deshalb tun Buchdrucker ganz fromm und grüßen: „Gott grüß die Kunst!“, korrekte Antwort: „Gott grüße sie!“

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  1. Ich erinnere mich an dieses Projekt.
    Unterschiedlicher könnten die Fahrer nicht sein. Und auch wenn ich die Augen leicht bei den hüpfenden Äpfelchen verdrehe….der Grund für diese Unpünktlichkeit ist mir doch sympathischer als jene des muffeligen Hubert.

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