An der Y-Gabel (1) – Entscheidungen, die ich bedauere

Die meiste Zeit meines Lebens musste ich um 6 Uhr morgens aufstehen. Mit 13, nach acht Volksschuljahren, begann ich eine Lehre in einer Neusser Buchdruckerei und fuhr um 6:35 mit einem Bus dorthin, der wie eine Sorte Lumpensammler über die Dörfer kurvte und Leute mitnahm, um sie um 7:30 Uhr in Neuss abzuliefern. Später als Lehrer stand ich auch um 6 Uhr auf. Das Gymnasium, an dem ich ab 8 Uhr morgens unterrichtete, lag außerhalb von Aachen, aber war bequem mit dem Fahrrad zu erreichen. Das tat ich gut 25 Jahre, und so ist es kein Wunder, dass ich noch heute gegen sechs Uhr aufwache.

Ganz selten gelingt es mir nochmals einzuschlafen, heute beispielsweise. Wenn ich erwache, liege ich meistens auf der linken Seite, und mein Blick fällt aus dem Fenster, wo ich in das Gewirr der Verästlungen und Verzweigungen einer stattlichen Eiche schaue. Zu dieser Jahreszeit heben sie sich um sechs Uhr nur schwach vor dem Nachthimmel ab, aber als ich gegen acht Uhr die Augen erneut öffnete, war es wie irrwitziger Scherenschnitt vor einem grauen Himmel. Ich musste an die Verästlungen und Verzweigungen eines Lebenswegs denken. Betrachtet man das leicht im Wind sich wiegende Ende eines Zweigs, dann ist der Ort seiner Spitze ein plausibles Ergebnis von Wachstumsentscheidungen der Zweige, der Äste, des Stamms und der Wurzeln. So ist auch jeder Lebensweg rückwärts betrachtet plausibel. Dass ein Mensch dort steht, wo er steht, ist das Ergebnis von Entscheidungen, deren Tragweite sich erst rückwärts betrachtet einstellen.

Das Ypsilon galt von der Antike bis in die Neuzeit als Symbol des freien Willens. (Abb. aus Buchkultur im Abendrot, Kartoffeldruck auf Scanner, Grafik: JvdL) In der Literatur hat das Ypsilon viele Namen: Der „bifurcata littera“, „littera Pythagorae“, „Libre arbitre“, „der Scheidweg des Herkules“ „die Kreuzwegsfigur des Pythagoras“. Der untere Stamm des Ypsilons symbolisiert die lautere und reine Kindheit, die Äste stellen die Gabelung des Lebensweges dar, an dem der Heranwachsende wählt, links den bequemen Weg des Lasters, rechts den steilen, steinigen Weg der Tugend.

Derlei Idealisierung erscheint uns nicht mehr zeitgemäß. Dem heutigen Menschen bietet das Leben immerzu eine Fülle von Entscheidungsmöglichkeiten. Aber es geht wohl um eine grundsätzliche Wahl, unter deren Prämisse alle folgenden Entscheidungen stehen. Das Bild der Eiche vor Augen bieten sich auch innerhalb der grundsätzlichen Entscheidung für den linken oder rechten Ast viele Möglichkeiten, die den weiteren Lebensweg bestimmen. Jedenfalls haben eine Fülle solcher Entscheidungen dazu geführt, dass ich an diesem Sonntagvormittag im sacht beschneiten Hannover-Linden am Rechner sitze und das hier aufschreibe.

Es gibt eigentlich nur zwei Entscheidungen, bei denen ich bedauernd denke, ich hätte sie vielleicht anders treffen sollen. Inwieweit sie meinen Lebensweg verändert hätten, ob sie überhaupt von Belang sind, ist rein spekulativ. Allein der Umstand, dass ich die Situationen und Begleitumstände noch präsent habe, gibt ihnen Bedeutung. Beide liegen in meinem 18. Lebensjahr, insofern passend zum Ypsilon-Symbol. Von einer erzähle ich hier.

Ich war mit Freunden in der Bacharacher Jugendherberge, damals wie heute in der Burg Stahleck gelegen. Bacharach ist ein malerisches Städtchen am Rhein. Es war eine schöne unbeschwerte Zeit. Tagsüber lungerten wir im Städtchen herum, übten beispielsweise einen Simultanchor aus Maschinengeräuschen, womit wir die spießigen Passanten zu schocken trachteten, wobei ich noch keine Ahnung davon hatte, dass es den dadaistischen Lautgedichten nah kam. Wir alberten mit irischen Mädchen aus Dublin herum, Schülerinnen einer katholischen Nonnenschule auf Klassenfahrt. Sie sprachen kein Wort Deutsch. Mein guter Freund Föppes nutzte diese Unkenntnis und brachte seinem Mädchen bei: „Ich bin geil!“ zu sagen. Die anderen lernten es auch. Die mir zugetan war, sah aus wie die jüngere Schwester der Sängerin Julie Driscoll.
Leider bremste sie mich aus mit den Worten: „I don’t like kisses with the tounge!“ Zungenküsse hatten die Nonnen vermutlich verboten, weil zu geil. Die kannten sich aus. Nachdem uns die prüden Mädchen ein paar Tage mit einem freudigen „Ich bin geil!“ begrüßt hatten, kamen sie eines Morgens daher und sagten, sie dürften es nicht mehr sagen. Die Nonnen hätten ihnen erklärt, was „Ich bin geil!“ bedeutet.

Die Abende verbrachten wir in Elas Diskothek. Ela war eine junge Frau aus Düsseldorf, deren Eltern sich in Bacharach ein Hotel gekauft und ihr und ihrem Mann die Diskothek eingerichtet hatten. Wir waren dort bald vertraute Gäste. An diesem Abend lernte ich ein sehr hübsches Mädchen aus Hamburg kennen. Sie war mit ihrer älteren Schwester und ihrem Schwager aus dem nahe gelegenen Touristenort Rüdesheim angereist. Leider war in der Jugendherberge um 22 Uhr Bettruhe, wobei vom Herbergsvater streng kontrolliert wurde, ob alle in ihren Betten waren. Ich versprach dem Mädchen, mich wegzuschleichen, sobald der Herbergsvater seinen Kontrollgang gemacht hatte. Die Freunde wollten mich begleiten. Unser Zimmer lag in Parterre zum Hof. Nachdem der Herbergsvater und sein Adlatus uns brav in unseren Betten gefunden hatte, wollten wir zu Viert aus dem Fenster steigen, ich voran. Doch als die Freunde folgen wollten, ging das Licht auf dem Flur wieder an und der Herbergsvater kehrte zurück. Da ich als einziger einen Grund hatte abzuhauen, verzichteten sie wispernd darauf, mir zu folgen. Als ich den Burghof gerade überquert hatte, kamen Herbergsvater und Gehilfe mit Taschenlampen auf den Hof. Ich trug einen langen hellen Mantel, den mir mein Freund Föppes geliehen hatte. Also hockte ich mich mit dem Rücken zum Hof an den Burgturm, zog den Kopf ein und hoffte, man würde mich für einen Felsen halten. Die Tarnung gelang. Bald konnte ich ungesehen über die niedrige Burgmauer klettern und mir vom Berg einen Weg durchs Gestrüpp suchen hinunter zu Elas Disco, wo mich meine Hamburger Flamme freudig begrüßte. Als Elas Disco um ein Uhr schloss, schlug der Schwager vor, ich solle mit zu ihrem Rüdesheimer Hotel fahren, wo ich im Zimmer des Mädchens übernachten könne. Das war verlockend, doch ich entschied mich dagegen. Ich habe es oft bedauert. Wir schrieben uns noch eine Weile, doch sahen uns nie mehr wieder.

20 Kommentare zu “An der Y-Gabel (1) – Entscheidungen, die ich bedauere

      • Vom Mann der Schwester ein solches Vermittlungsangebot zu bekommen, war sicher überraschend. Du musst keine entschuldigenden Erklärungen abgeben. Ich habe doch nur die Gelegenheit genutzt, das Y auch in diesem Kontext noch anzubringen. 🙂 – Dein Buch sollte mich im Lauf der Woche erreichen. Ich bin sehr gespannt.

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  1. Nicht weit von da, in Assmannshausen, hatte ich 1975, nach einem Spaziergang zum Niederwalddenkmal, die erste Nacht mit meiner späteren Ehefrau und Mutter meiner drei Kinder. Das war auch schon deswegen keine falsche Entscheidung, weil ich sie nicht gezielt getroffen hatte. Mein Bruder hatte die Hand im Spiel. Er arbeitete dort in einem Hotel und sollte uns zwei Zimmer reservieren. Angeblich war dann nur noch eins frei. Das Thema „falsche Entscheidungen“ lohnt, nochmal aufgegriffen zu werden, finde ich. Wie war denn Deine zweite? Wobei die erste von Dir genannte ja auch nicht unbedingt falsch gewesen sein muss. Es war doch eher so, dass man das Gefühl hat, eine günstige Gelegenheit verpasst zu haben.

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    • Am Niederwalddenkmal war ich auch, aber sieben Jahre früher, anlässlich einer Radtour zum Bodensee, so dass sich unsere Wege nicht gekreuzt haben. Ob die Entscheidung „falsch“ war, weiß ich ja nicht. Von der zweiten werde ich bei Gelegenheit erzählen. Der heutige Text ist schon ziemlich lang.
      Stimmt. Das Thema: „Entscheidungen, die ich bedauere“ oder „Verpasste Gelegenheiten“ würde sich gut für ein Erzählprojekt eignen.
      Gibt es nicht in Hermann Hesses „Steppenwolf“ eine Passage, die sich mit dem Thema beschäftigt? Ich erinnere mich vage an Türen, die der Protagonist öffnet und wo er auf derlei Szenerien schaut.

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  2. Seufz. Auch ich hab mich 40 Jahre damit gequält, dass ich mich mit 16 nicht getraut habe, den Arm um die Schulter meiner ersten Liebe zu legen. Eine Woche später hatte sie einen andern. Vor einem Jahr habe ich durch Zufall ihre Adresse bekommen. Ich rief sie an, wir waren beide sehr aufgeregt, versprachen uns , uns auf jeden Fall wieder zu sehen. Seither ist Ruhe.

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  3. Das Ypsilon finde ich vielsagend und äußerst verführerisch. Nicht nur, weil es auch ein Teil des Fahrrades ist (Gabel) sondern auch noch aus allen möglichen seltsamen anderen Gründen. Perlenketten zum Beispiel. Wobei ich, trüge ich so ein langes Perlending mit Zippel um den Hals dauernd nur in der Suppe hängen würde. Aufgrund der jahrzezehntelang schmerzvoll erworbenen Kenntnis um meine zeitweise eruptive Ungeschicklichkeit, huldige ich also dem schönen Ypsilon, indem ich Sachen wie dysthym oder Yachtpolygonanalyse in Schönschrift schreibe. Frag mich bitte bloß nicht was das Zweite bedeutet, sonst gerate ich in die bissigen Fänge meiner Erklärungsnot.

    Von Lucia Berlin lese ich gerade „Was ich sonst noch verpasst habe“. Der Titel passt irgendwie auf seltsame Weise zu Deinen bedauerlichen Entscheidungen. Das, was Lucia sonst noch so verpasst zu haben angibt, ist dermaßen prall mit Gefühl angefülltes Leben, dass jede Seite nur so davon birst, pritzelt und funkelt. Es lohnt sich also aufzuschreiben, was man sonst noch so verpasst hat in diesem Interessenkonflikt der Spielwiese Leben.
    „Chancen multiplizieren sich, wenn man sie ergreift.“ Las ich mal bei Meister Sun.
    Die Hoffnung wächst zuerst.

    Sonntagsgrüße von der Fee aus dem schneeregnerischen und saukalten Teuto

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    • Ich musste auch „dysthym googeln und weiß jetzt immerhin, dass es missmutig bedeutet.
      „Was ich sonst noch verpasst habe“, ist deiner Schilderung nach eine Klage auf hohem Niveau. Da ich nie große Erwartungen gehegt habe, glaube ich auch nicht, viel verpasst zu haben. Im Gegenteil, gemessen an meinen Ausgangsbedingungen habe ich mehr erlebt, als mir in die Wiege gelegt war. Von einer weiteren Entscheidung, die ich leise bedauere, kann ich demnächst mal berichten. Der lag aber kein echter Interessenskonflikt zugrunde, sondern Vorsicht.
      Ich war heute gar nicht vor der Tür, denn draußen siehts unerfreulich aus.
      Lieben Gruß und schönen Sonntagabend, wünscht
      Jules

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      • …nein, es liest sich weniger wie eine Klage, dieses „Verpasste“, es ist im Gegenteil auch voller Humor und voller Tragik und alledem was ein Leben so anfüllt und es ist ein gutes Gefühl, viel erlebt zu haben. Manche reisen um die ganze Welt, andere, von ihren Umständen befangen, berichten statt episch eher mit einem Blick in die Einzelheiten. Ich bedauerte auch schon Entscheidungen. Manche trafen auch andere für mich mit – auch dies bedauerlich für mich. Früher sprang ich munter los, das geschieht immer seltener und Neuzuneigungen beäuge ich mit Argosblick. Trau schau wem. Unerfreulich. Ich muss immer lachen, wenn ich dieses Wort höre und weiß nicht wieso.
        Lass Dir von dem nieselprimigen GeFissel mit Schneequark da draußen nicht die gute Laune wegschmoddern. Ich habe mich unter einem Stapel Bücher mit Wärmflasche verbuddelt und fotografiere Sonnenuntergänge durch die Isolierverglasung meiner Fenster.
        🙈

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  4. Eichen sind ja herrliche Bäume, so knorrig und verzweigt wachsend. Auch dass sie sehr alt werden können, macht, finde ich, Mut. Kürzlich lernte ich, dass es keineswegs nur die weit auskragenden, sich in alle Himmelsrichtungen verzweigenden gibt, sondern auch schlanke, strebsame. Sie sehen aus wie Pappeln, sind aber Säulen- oder Pyramideneichen und säumen in meiner Wohngegend einige Straßen. Linker und rechter Weg des Ypsilons liegen hier so dicht beieinander, dass die Wahl eine nur scheinbare ist. Das hat irgendwie mein Bild von der Eiche als Metapher eines gelebten Lebens beschädigt, denn nun weiß ich, dass es selbst unter den Eichen Streber gibt. (Danke auch für die Erinnerung an Julie Driscoll, lege ich nachher auf!)

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    • Derlei Eichen kenne ich nicht. Ich bin schon froh zu wissen, dass der Baum in meiner Nähe eine Eiche ist. Vor dem anderen Fenster steht ein Spitzahorn. Das weiß ich aber erst von meiner früheren Obernachbarin, die für das Beet rundum die Patenschaft übernommen hatte.
      Dass du Judie Driscoll kennst, wundert mich. Du bist doch deutlich jünger als ich.

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      • Über das Ausmaß dessen, was du mit „deutlich“ meinst, legen wir mal den Mantel der Verschwiegenheit… In der Tat bin ich aber ein chronischer zu spät Kommender, auch in der Musik. Ich entdeckte sie immer erst für mich, als sie schon vorbei war, z. B. Musik aus den Sechzigern. (Ganz abgesehen davon ,dass ich zwar keineswegs glaube, dass „früher“ alles besser war. Der Blick in die Vergangenheit zeigt mir aber immer deutlicher, dass dort mehr Schätze zu heben sind als wir für möglich halten 🙂

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  5. Schon gestern las ich deine schöne Erzählung, lieber Jules. Ein feines Lesevergnügen, das einen von der Symbolik des Y bis hin zu deinen Erinnerungen trägt und einen später darüber nachdenken lässt, welche Entscheidung man selbst bereut oder was man betreut, nicht getan zu haben.
    Es sind ja doch die schönsten Erzählungen, die einen selbst zum treiben der Gedanken veranlassen.

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